“Mut-Tour” wirbt für offenen Umgang mit Depressionen
Die Organisierenden der “Mut-Tour” haben sich eine beeindruckende Radstrecke vorgenommen. Und wollen dabei ein Zeichen für mehr Offenheit im Umgang mit Depressionen setzen.
Die Tandems, die Sebastian Burger da aus seiner Garage in der Bremer Neustadt bugsiert, sind echte Lastesel. „Mit Gepäck und Besatzung kommen da schon bis zu 250 Kilo zusammen“, schätzt der Initiator der bundesweiten „Mut-Tour“. Also checken Burger und Mitorganisatorin Andrea Roosch ganz besonders die Bremsen der schnittigen weißen Räder – und sind zufrieden. Gut so, denn am 1. Juni soll es auf dem Bremer Marktplatz losgehen: Bis in den September wollen mehrere 6er-Teams radelnd und auch wandernd deutschlandweit ein Zeichen für mehr Offenheit und Wissen im Umgang mit Depressionen setzen.
Von Bremen über Wolfsburg, Berlin, Leipzig, Erfurt, Kassel, Nürnberg nach Regensburg. Dann weiter über München, Stuttgart, Frankfurt, Saarbrücken, Bonn, Köln und Münster mit einem Abschluss in Osnabrück: Bis zum Ende am 3. September wollen die Teams 3.800 Kilometer zurücklegen. „Da lassen sich wunderbar Stresshormone wegstrampeln, Glückshormone werden beim Radeln ausgeschüttet“, schwärmt Burger, der das Gemeinschaftserlebnis auf den insgesamt zehn Etappen herausstreicht: „Alle zusammen erleben, wie leistungsdruckfreier Sport, Struktur, Natur und Gemeinschaft die Stimmung heben.“
Mut-Tour: 65 Aktive gehen an den Start
Daran beteiligen sich in diesem Sommer 65 Aktive mit und ohne Depressionserfahrungen. Es gibt zwei Wanderungen, eine davon mit Pferdebegleitung. Die Tiere helfen, das Gepäck zu tragen. „Und sie sorgen für eine ruhige Stimmung, da kommt man zu sich“, erzählt Andrea Roosch (57), die in Bremen als selbst depressionserfahrene Mutter eines psychisch erkrankten Sohnes eine Selbsthilfegruppe leitet, bei der Bewegung in Form von Spaziergängen ebenfalls eine wichtige Rolle spielt.
„Bewegung tut der seelischen Gesundheit einfach gut und ist genauso wirksam wie Medikamente“, bekräftigt Sebastian Burger. Seit der ersten Sommer-Tour 2012 haben das seinen Angaben zufolge 250 Teilnehmende ausprobiert und dabei zusammengenommen an 925 Tagen quer durch Deutschland 46.000 Kilometer zurückgelegt – meistens auf Tandems. „Das ist einfach optimal: Das Chasis eint Menschen mit ganz unterschiedlicher Kondition“, hat der 44-jährige Tour-Organisator erfahren.
Gegen die Stigmatisierung von Betroffenen
Nach Angaben der Stiftung Deutsche Depressionshilfe gehören Depressionen zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen. Bundesweit erkranken demnach jedes Jahr 5,3 Millionen Menschen an einer behandlungsbedürftigen Depression. Gedrückte Stimmung bis hin zur Freud- und Gefühllosigkeit und das Fehlen von Interesse sind die Hauptmerkmale. Hinzu kommen meist ein permanentes Erschöpfungsgefühl, die Neigung zu Schuldgefühlen, hartnäckige Schlaf- und Appetitstörungen und das Gefühl der Ausweglosigkeit bis hin zu Suizidgedanken.
Über die Krankheit reden, gegen die Stigmatisierung und die Isolation depressiver Menschen angehen – das sind Ziele der Tour, die Sebastian Burger ins Leben gerufen hat, nachdem er selbst erlebt hat, wie es einer WG-Mitbewohnerin ging, die 2007 an einer Depression erkrankte. „Sie hatte sich selbst stigmatisiert, wollte vermeiden, dass ihr Chef von der Krankheit erfährt.“ Am Ende habe sie sich gut stabilisiert. Aber Stigmatisierung sei nach wie vor ein großes Thema. „Alle sprechen drüber – aber nicht gerne über die eigene Depression.“ Dazu komme ein Versorgungsdefizit: „Im Durchschnitt dauert es 22 Wochen, bis man einen Therapieplatz bekommt.“
Mut-Tour: Eine Win-Win-Situation für alle
Deshalb Arsch hoch und raus aus der Isolation, betont Sebastian Burger das Konzept der „Mut-Tour“. „Eine Win-Win-Situation“, bekräftigt Andrea Roosch. „Sowohl für die Teilnehmenden wie auch für diejenigen, denen wir begegnen.“ Und das sind viele, etwa bei der Verpflegung, bei der Unterkunftssuche und natürlich auch im Kontakt mit Medien. „Bisher hat es in den vergangenen Jahren über die Mut-Tour 4.500 Berichterstattungen in lokalen Tages- und Wochenzeitungen gegeben, dazu Internet-Veröffentlichungen und ein paar Hundert lokale TV- und Radio-Feature“, freut sich Sebastian Burger über die Resonanz.
Trägerverein der „Mut-Tour“ ist seit 2022 der eigens dafür gegründete Verein „Mut fördern“, der daneben noch weitere Aktionen der Selbsthilfe anbietet. In diesem Jahr lautet das Motto „Mut zur Selbsthilfe – Unterstützung sichtbar machen“. Zum Auftakt radelt das erste Tandemteam an sieben Fahrtagen bis Berlin, danach übernimmt die zweite Crew die Ausrüstung für die nächste Etappe nach Leipzig. In Bremen startet am Samstag auch eine Wanderung, der sich Interessierte tageweise spontan anschließen können. „Das ist ein tolles Abenteuer“, schwärmt Andrea Roosch und ist überzeugt: „Das gute Gefühl, selbst aktiv sein zu können, wächst mit jeder Etappe.“