Stephan Theo Reichel: Russische Deserteure unzureichend geschützt

Russische Kriegsdienstverweigerer erhalten in Deutschland selten Asyl. Ein Gastbeitrag von Stephan Theo Reichel, Vorsitzender von „Matteo – Kirche und Asyl“ in Nürnberg.

Ein Ausschnitt aus einem Protestbanner für Asyl für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer
Ein Ausschnitt aus einem Protestbanner für Asyl für Deserteure und KriegsdienstverweigererIMAGO/ Willi Schewski

Dimitri (19) ist aus seiner russischen Heimat geflohen. Er ist schwul und wollte nicht an der Front gegen die Ukraine kämpfen. Oleg ist aus Tschetschenien geflohen vor dem Diktator Kadirov, der ihn und alle jungen Männer in Sondereinheiten in den russischen Angriffskrieg schicken will. Irina ist eine russische Ärztin aus Moskau, der die Zwangsrekrutierung an die Front drohte.

Von Kettenabschiebungen bedroht

Alle drei suchten Schutz in Deutschland und vertrauten auf die Zusage von Kanzler Olaf Scholz im November 2022, alle russischen Dissidenten und Deserteure aufzunehmen. Das hat die Innenministerin Nancy Faeser wohl nicht mitbekommen. Sie lässt über die Abschiebebehörde BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) alle russischen Flüchtlinge über die umstrittene Dublin-Verordnung nach Bulgarien, Litauen, Polen oder Kroatien „rückführen“, wo sie von Kettenabschiebungen nach Russland bedroht sind. Wer Dublin übersteht, auch dank unserer Kirchenasyle, bekommt in Deutschland kein Asyl. Die Erstanerkennungsquote für russische Flüchtlinge des BAMF lag in 2023 bei neun Prozent, ist in den ersten Monaten 2024 auf unter fünf Prozent gefallen. Zahlen, die fassungslos machen. Zum Glück wird bisher niemand abgeschoben, da viele BAMF-Bescheide von Gerichten aufgehoben werden und es noch einen informellen Abschiebestopp gibt.

Unzureichender Schutz

Aber der unzureichende Schutz von Deserteuren trifft auch andere Länder. Syrische und afghanische Wehrdienstflüchtlinge erhalten oft nur subsidiären Schutz für ein Jahr oder zeitlich befristete Abschiebeverbote. Wehrdienstverweigerer aus der Ukraine sind nur deshalb geschützt, weil alle Ukrainer bedingungslos in Deutschland aufgenommen werden, ein umstrittenes und unfaires Privileg für fast 1,2 Millionen Flüchtlinge gegenüber den anderen Asyl- und Schutzsuchenden, die mit Dublin-Abschiebungen, Arbeitsverboten und Wohnpflicht in Lagern und Heimen bedrängt werden.

Das Christentum ist eine fried­liebende Religion mit dem Gebot der Nächstenliebe, auch wenn die Verteidigung gegen einen Angriffskrieg durchaus theologisch legitimiert werden kann. Es ist aber nicht nur humanitärer, sondern auch christlicher Konsens, dass niemand zu Wehrdienst oder Gewaltanwendung gezwungen werden kann.

Dennoch gibt es keinen generellen Anspruch auf Asyl für Deserteure. Flüchtlinge vor dem Wehrdienst aus demokratischen Staaten sind in der Regel nicht geschützt. Aber nach wie vor geben die deutschen Asylbehörden auch keinen oder nicht ausreichenden Schutz für Deserteure und Wehrdienstverweigerer aus Staaten, die Angriffskriege führen oder einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung.

Grundrechte wiederherstellen

Sowohl das Grundrecht auf Wehrdienstverweigerung als auch das auf Asyl wurde in unsere Verfassung aufgenommen vor dem Hintergrund der Erfahrungen im Nationalsozialismus. Es ist unfassbar, dass eine Ministerin und die ihr unterstellte Behörde diese beiden Grundrechte gezielt aushebeln. Sie lässt sich treiben von AfD und CDU/CSU, die gerade in ihrem neuen Grundsatzprogramm eine faktische Abschaffung des Asyls und den Ausstieg aus der Genfer Flüchtlingskonvention plant. Das hat mit christlicher Lehre nichts zu tun. Auch vonseiten der Grünen gibt es kaum Widerstand. Es ist dringend geboten, dass das Recht auf Wehrdienstverweigerung und der Flüchtlingsschutz für Deserteure aus Diktaturen wiederhergestellt wird. Wir konnten Dimitri, Oleg und Irina wie 30 andere Betroffene in den Schutz des Kirchenasyls nehmen und werden das weiter tun.

So schön es ist, dass die Kirchen den Rechtsstaat schützen, wo staatliche Ministerien und Behörden versagen, umso wichtiger wäre es, dass beide Grundrechte wieder­hergestellt werden und die Hetze gegen reguläre Flüchtlinge beendet wird.

Stephan Theo Reichel ist 1. Vorsitzender von „Matteo – Kirche und Asyl“ in Nürnberg und Beauftragter für Flüchtlingsarbeit der Evangelischen Brüder-Unität – Herrn­huter Brüdergemeine.