Staatsrechtler Josef Isensee zu 75 Jahre Grundgesetz

Josef Isensee sieht sich als Verfassungspatriot. Das Grundgesetz hat sich für ihn bewährt. Zugleich warnt er davor, die Menschenwürde “zur billigen Münze” der Politik zu machen. Und er hat auch einen Rat an die Bischöfe.

Der emeritierte Bonner Staatsrechtler Josef Isensee hat sich ein Forscherleben lang mit Grundrechten und Verfassungstheorie befasst. Öffentlich bekannt ist der Katholik auch durch pointierte Stellungnahmen zu aktuellen Fragen. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) würdigt er die Entwicklung der Verfassung, warnt aber auch vor Instrumentalisierungen.

KNA: Professor Isensee, würden Sie sich als Verfassungspatriot bezeichnen?

Isensee: Durchaus – und zwar im Sinne eines umfassenden Patriotismus, der Land und Leute, Recht und Leben, Staat und Verfassung umfasst. Also nicht die dünne Suppe eines allein auf die Verfassung gerichteten Patriotismus, der auf Jürgen Habermas zurückgeht.

KNA: In welcher Verfassung ist das Grundgesetz nach 75 Jahren?

Isensee: Es gibt allen Grund zu feiern. Wir haben die erfolgreichste Verfassung der deutschen Geschichte. Sie genießt als gemeinsame Basis aller Deutschen hohe Zustimmung. Und sie strahlt aus auf die Welt.

KNA: Die Verfassungsväter und -mütter entwarfen das Grundgesetz als Antwort auf die NS-Zeit und den Bolschewismus. Hat es sich darin bewährt?

Isensee: Es hat sich bewährt. Die Verfassung beruht auf einem antitotalitären Grundkonsens der Deutschen – sowohl gegenüber dem NS-Terrorstaat als auch gegenüber dem Sowjet-Sozialismus der DDR. Das hat ich sich allerdings in jüngster Zeit gewandelt. Die politische Öffentlichkeit schaut einseitig auf den Rechtstotalitarismus, während nach links alles im reinen zu sein scheint. Das erinnert an Denkmuster des kommunistisch imprägnierten Antifaschismus; an das Leitbild einer Volksfront, einer von links beherrschten Einheit von Sozialismus und bürgerlicher Mitte.

KNA: Die Grundrechte haben zwar Ewigkeitsgarantie, aber auch die Verfassung unterliegt gesellschaftlichem Wandel. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Isensee: Ich begrüße sie grundsätzlich. Zu Anfang wurden die Grundrechte vornehmlich als Abwehrrechte verstanden: Als Freiheit vom Staat, der sich für jeden Eingriff in die Freiheit zu rechtfertigen hat. Dazu trat die Inpflichtnahme des Staates für den Schutz von Leben und Freiheit des Einzelnen vor den Übergriffen seines Nebenmenschen – in der Fachsprache die Grundrechtliche Schutzpflicht. Schließlich wurde die Garantie des Staates für die Voraussetzung eines menschenwürdigen Lebens als Grundaufgabe erkannt. All diese Rechte enthalten Ansprüche des Einzelnen, die er gerichtlich einklagen kann. Das ist in der Tat eine sinnvolle Entfaltung der Grundrechtsidee. Dazu kann man nur gratulieren.

KNA: Als archimedischer Punkt der Verfassung gilt der Begriff der Menschenwürde. Allerdings ist durchaus umstritten, was inhaltlich genau darunter zu verstehen ist. Wie begründen Sie ihn?

Isensee: Der Begriff der Menschenwürde geht aus der Ethik des Christentums und des Humanismus hervor. Er wird aber durch das vom Menschen gemachte – also das positive – staatliche Recht gewährleistet. Menschenwürde bedeutet die Unverfügbarkeit eines jeden Menschen, der Selbstzweck ist und den die staatliche Gemeinschaft zu achten und zu schützen hat.

KNA: Lässt sich die Würde angesichts eines schwindenden christlichen Erfahrungshorizonts noch so begründen?

Isensee: Die Idee der Menschenwürde ist in der Sache vorgegeben und insoweit Naturrecht. Für den Christen ergibt sie sich aus der göttlichen Schöpfung, der Erlösung des Menschen und aus der Annahme der Menschennatur durch den Sohn Gottes. Aber dieser Glaube ist nicht Inhalt von Artikel 1 Grundgesetz. Das Grundgesetz ist kein Depot der christlichen Lehre. Es ist eine säkulare Ableitung – und das nicht nur aus dem Christentum, sondern auch aus anderen europäischen Traditionen. Die Interpretation vollzieht sich aus der jeweiligen Zeit heraus. Das gilt auch für eine unantastbare und irreversible Verfassungsnorm wie die Garantie der Menschenwürde. Jede Generation stellt ihre Frage an die Menschenwürde und sucht die ihr gemäßen praktischen Antworten.

KNA: Allerdings berufen sich immer häufiger Personen oder Interessengruppen direkt auf die Menschenwürde mit teilweise widersprüchlichen Forderungen – etwa bei der Forderung nach einer Freigabe der Abtreibung als Ausdruck der Selbstbestimmung der Frau.

Isensee: Es gibt viele, die versuchen, sich dieser Verfassungsnorm zu bemächtigen. Leider ist Menschenwürde so auch zur billigen Münze der Politik geworden, oft ohne Rücksicht auf ihre Verdeutlichung durch andere Grundrechte. So hat das Bundesverfassungsgericht aus gutem Grund den Schutz des ungeborenen Lebens nicht nur auf die Würde des Menschen gegründet, sondern auch auf das Grundrecht auf Leben.

KNA: Die von der Ampelregierung eingesetzte Kommission zur “Reproduktiven Selbstbestimmung” kam zu anderen Ergebnissen.

Isensee: Das Bundesverfassungsgericht hat verbindlich entschieden, dass das menschliche Leben von Anfang an dem Schutz des Rechts auf Leben und der Menschenwürde unterliegt und dass die Selbstbestimmung der Schwangeren diesen Schutz grundsätzlich respektieren muss.

KNA: Kritiker verweisen aber darauf, dass das Urteil drei Jahrzehnte alt ist.

Isensee: Die Gegenargumente ebenfalls. Die Fristenlösung wurde als verfassungswidrig verworfen. Und nach der Wiedervereinigung wurden die Gegenargumente ebenfalls verworfen. Die Ampel will dagegen den bestehenden Konsens aufkündigen, um letztlich die Fristenlösung wieder einzuführen.

KNA: Mit Blick auf das Lebensende haben die Karlsruher Richter den Suizid als Ausdruck der Persönlichkeitsrechte gewertet. Wie ist das zu vereinbaren?

Isensee: Die Entscheidung entspricht dem Trend, Selbstbestimmung und Autonomie des Menschen immer stärker zu gewichten und auszuweiten. Die Verfassung schützt das Recht auf Leben und die freie Entfaltung der Persönlichkeit, sie sieht aber nicht das Recht auf freie Selbstvernichtung vor. Der Suizidversuch ist gleichwohl nicht strafbar. Es ist eine Scham vor der Grenzsituation des Menschen, die nicht zu regulärer Freiheitsausübung abgeflacht werden sollte. Das ist eine Regel kluger Zurückhaltung. Man hätte das so lassen sollen. Dem entspricht auch das ärztliche Ethos als Helfer zum Leben, nicht zum Tode. Die Verfassung beruht als Grundlage des Zusammenlebens auf der Option für das Leben.

KNA: Wird die Verfassung durch Karlsruhe damit fortgeschrieben?

Isensee: Die Verfassung strebt Gemeinsamkeit der Werte und Normen an. Aber die Gemeinsamkeit entwickelt sich durch Interpretation, je nachdem wie eine Generation sie versteht. Sie ist eine Daueraufgabe für das Gemeinwesen, um das zu erwerben, was sie schon besitzt, und zwar durch aktuelles Verstehen, Interpretieren und Anwenden.

KNA: Die Verfassung soll auch vor neuem Extremismus schützen. Wie sehen Sie die Forderung nach einem Verbot der AfD?

Isensee: Wer das Verbot betreibt, sollte sehr vorsichtig sein. Eine Abweisung der Klage wäre ein Triumph für die Partei und ein Bärendienst an der freiheitlichen Demokratie. Im Zweifel muss die Demokratie mit ihren Widersachern leben. Die Demokratie des Grundgesetzes ist streitbar. Aber sie lebt nicht durch obrigkeitsstaatliche Verbote, sondern Kraft des Vertrauens auf die Einsicht und den guten Willen aller Bürger.

KNA: Wie blicken Sie als bekennender Katholik auf die Verfassung?

Isensee: Die Verfassung gilt für einen säkularen Staat. Sie steht Bürgern aller Religionen offen und gibt den Kirchen freien Raum, ohne sich hier einseitig zu binden. In den Anfangsjahren hat es mehr Übereinstimmungen der Interpretation mit spezifisch christlichen Lehren gegeben. Die Kirchen waren gleichsam verwöhnt. Das hat sich geändert – etwa in der Bewertung des Suizids und in der sogenannten Ehe für alle. Die Kirche hat aber weiter alle Möglichkeiten, für ihre Überzeugungen zu werben, auf das Gewissen der Einzelnen und die Einsicht der Allgemeinheit einzuwirken.

KNA: Wird die Kirche dem gerecht?

Isensee: Das ist nicht zuletzt eine Frage der politischen Klugheit. Nach den Missständen durch den Missbrauchsskandal sollte sie aber Zurückhaltung üben, wenn sie sich zu politischen Kontroversen äußert.

KNA: Worauf beziehen Sie sich?

Isensee: Bei der jüngsten Kritik an Vorschlägen der CDU, Migration rechtlich zu steuern und zu begrenzen, haben sich die Bischöfe übernommen. Sie folgen einer Gesinnungsethik, wie sie Einzelnen wohl ansteht, aber der kirchlichen Institution an sich fremd sein sollte. Sie sollte von Max Weber gelernt haben, dass sie im politischen Raum einer Verantwortungsethik zu folgen hat.

KNA: Was würde Sie nach 75 Jahren an der Verfassung ändern?

Isensee: Es gibt viele Einzelfragen, in denen ich für eine andere Lösung bin. Bei der Streitfrage zum Schutz des ungeborenen Lebens sollte es aber bei der zweimaligen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bleiben. Allerdings: Eine Verfassung, die von Grund auf etwas anderes als eine parlamentarische Demokratie, einen sozialen Rechtsstaat und einen Bundesstaat herstellen möchte, die will ich nicht haben. Deshalb wünsche dem Grundgesetz mindestens weitere 75 Jahre.