Spionage im Kanzleramt

Es ist früh am Morgen, um 6.30 Uhr des 24. April 1974, als im Bonner Stadtteil Bad Godesberg Polizeibeamte an der Tür von Günter Guillaume klingeln, dem Parteireferenten im Kanzleramt. Guillaume öffnet, ist erst überrascht, sagt dann aber sogleich: „Ich bin Hauptmann der Nationalen Volksarmee und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit.“

Die Verhaftung Günter Guillaumes und seiner Frau Christel vor 50 Jahren markiert den Beginn der Guillaume-Affäre. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch niemand, welche Folgen sie für Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) haben sollte.

Günter und Christel Guillaume hatten 1956 die DDR verlassen, und zwar schon als Stasi-Spione. Als angebliche DDR-Flüchtlinge getarnt, sollten sie die SPD infiltrieren – Günter unter dem Decknamen „Hansen“, Christel als „Heinze“.

Christel Guillaume wurde Sekretärin im SPD-Parteibüro Hessen-Süd. Günter Guillaume mimte in der hessischen SPD den eher konservativen Sozialdemokraten. In der Partei stieg er auf, war Geschäftsführer der SPD im Frankfurter Stadtrat und im Wahlkampf-Organisationsteam von Landesverkehrsminister Georg Leber. 1970 wurde Guillaume Referent für die Verbindungen zu den Gewerkschaften im Kanzleramt, 1972 Parteireferent.

Guillaume fuhr 1973 sogar mit dem Kanzler Willy Brandt in den Urlaub nach Norwegen. Doch da hatte der Verfassungsschutz ihn längst auf dem Schirm. Auch Brandt wusste da schon von dem Verdacht, dass der Referent ein Ost-Spion sein könnte. Die Fahnder rieten aber, Guillaume vorerst in seiner Position zu belassen, um Beweise gegen ihn sammeln zu können. Brandt sollte also den Lockvogel spielen.

Brandts Rücktritt am 6. Mai 1974, zwei Wochen nach Enttarnung der Guillaumes, war für viele eine Überraschung, die Hintergründe sind bis heute nicht völlig klar. „Brandt übernahm damit auch die politische Verantwortung für die nachträglich als Fahrlässigkeit beurteilte Entscheidung, Guillaume nicht gleich zu verhaften“, erläutert der Historiker Jan Lipinsky vom Marburger Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung.

Von großer Bedeutung sei der mangelnde Rückhalt der SPD gewesen, sagt Lipinsky. Der Führungszirkel der Partei sei wohl zu dem Schluss gekommen, dass Brandt die Kraft fehle, die zu erwartende Medienkampagne durchzustehen. Die Affäre sei aber nicht der einzige Grund für Brandts Rücktritt gewesen, erklärt der Forscher: „Mit Rücktrittsgedanken hatte Brandt vermutlich zuvor schon gespielt.“ Der Kanzler sei ein „empfindlicher, verletzlicher, abwägend-zweifelnd-grübelnder, mitunter melancholisch-depressiver Politiker“ gewesen.

Die Guillaume-Affäre brachte die Stasi in ordentliche Verlegenheit. Zwar hatte die SED Brandt bekämpft, als er noch Berlins Regierender Bürgermeister war (1957-1966). Sie hatte bereits damals mit Josef Braun, Geschäftsführer der Berliner SPD, einen Spitzel in Brandts Umfeld platziert, Deckname „Freddy“.

Aber diese Zeiten waren 1974 schon lange vorbei. Brandts sozialliberale Bundesregierung hatte ab 1969 eine Politik der Annäherung an die DDR verfolgt. Von dieser „Neuen Ostpolitik“ hatten sich nicht zuletzt die SED-Granden viel versprochen. Brandts Sturz bedeutete für die SED nicht nur außenpolitisch einen Schuss ins eigene Knie, sondern auch im Inneren. Brandt war bei DDR-Bürgern beliebt. Ein Stimmungsbild der Menschen im Osten, das die Stasi erstellte, ergab, dass sie die Schuld für Brandts Rücktritt klar bei der DDR und ihrem Geheimdienst sahen.

Kein Wunder, dass Stasi-Auslandschef Markus Wolf am Tag nach der Verhaftung der Guillaumes in sein Tagebuch notierte: „Großer Mist.“ Nach Brandts Rücktritt schrieb er dann: „Ironie des Schicksals: Jahrelang schmiedeten wir Pläne und Maßnahmen gegen Brandt, jetzt, wo wir das wirklich nicht mehr wollten und sogar befürchteten, passiert dieser Unfall, betätigen wir den Abzug, liefern das Geschoss.“

Von den 19 Informationen, die Guillaume zwischen 1969 und 1974 lieferte, stufte die Stasi keine einzige als sehr wertvoll ein, nur fünf als wertvoll, den Rest als von mittlerem Wert. „Guillaume hatte keinen Zugriff auf die wirklich geheimen Dinge, er war ja nicht der persönliche Referent Brandts“, erklärt die Forschungsleiterin des Bundesarchivs für Stasi-Unterlagen, Daniela Münkel. Sein Wert für die Stasi sei auch gar nicht der als Quelle harter Informationen gewesen: „Es ging eher darum, eine Art Seismografen im Kanzleramt zu haben.“

Aber im gemeinsamen Norwegen-Urlaub hatte Guillaume tatsächlich Zugriff auf streng geheime Informationen – und wollte die auch weitergeben. Das scheiterte daran, dass die Überbringerin Angst vor einer Entdeckung hatte. „Sie hat die Mikrofilme dann wohl im Rhein versenkt“, erklärt Münkel.

Die Akten der Auslandsabteilung der Stasi sind nach der Wende weitgehend vernichtet worden. Neue Erkenntnisse über die Guillaume-Affäre sind Münkels Worten zufolge aus dieser Quelle nicht mehr zu erwarten. Aber vielleicht aus einer anderen: „Die Akten des Verfassungsschutzes dazu sind noch nicht zugänglich.“ Dort finde sich vielleicht eine Erklärung dafür, warum man Guillaume zunächst nah am Kanzler beließ. Nach derzeitigem Kenntnisstand könne man das nur als Behördenversagen werten, sagt die Professorin: „Es ist ein Rätsel, warum Brandt sich auf diese Lockvogel-Geschichte eingelassen hat.“