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Soziologe: AfD-Aufstieg nicht nur mit Flüchtlingszuzug 2015 erklärbar

Der Flüchtling an sich als Problem? Der Soziologe Armin Nassehi betont, dass schon vor 2015 Schulen marode und Wohnungen knapp gewesen seien. Nassehi bietet jetzt einen “verwegenen” Gedanken an.

Der Aufstieg der AfD ist nach Worten des Soziologen Armin Nassehi nicht allein durch den starken Flüchtlingszuzug vor zehn Jahren zu erklären. Die Partei wäre nicht verschwunden, wenn die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Grenzen geschlossen hätte, sagte Nassehi dem “Spiegel”. “Wir tun im Nachhinein so, als hätte sich mit der geschlossenen Grenze das Flüchtlingsproblem in Luft aufgelöst. Das wäre sehr naiv. Es gibt keine monokausale Erklärung für den Aufstieg der AfD.”

Die Ereignisse im Jahr 2015 hätten nicht im luftleeren Raum stattgefunden. “Unterschätzen Sie nicht die Erschütterungen und Krisenerfahrungen in den Jahren davor und danach”, betonte der Münchner Soziologe. “Als dann immer mehr Flüchtlinge ankamen und sich Teile der Bevölkerung überfordert fühlten, wirkte Merkels Satz ‘Wir schaffen das’ in seiner Beiläufigkeit geradezu provokativ.” Migration sei das zentrale Thema der AfD, aber auch eingebettet in einen “generellen Unmut gegen die gesellschaftlichen Eliten”.

Nassehi sagte: “Man hat sich daran gewöhnt, im Flüchtling, in den Menschen selbst das Problem zu sehen. Aber unsere Schulen in prekären Quartieren waren schon vor Ankunft der Flüchtlinge in einem desolaten Zustand, nun ist es offensichtlich.” Wohnungsknappheit und hohe Mieten würden durch die “neue Konkurrenz” sichtbar, aber es habe sie auch zuvor schon gegeben. “Die Kommunen waren auch vorher finanziell am Limit, nun ist es offensichtlich.” Es lasse sich darüber hinaus nicht bestreiten, dass es “Fehlanreize” in sozialen Sicherungssystemen gebe.

Flüchtlinge selbst verantwortlich zu machen, lenke davon ab, dass man sich in Deutschland um viele Dinge nicht genug gekümmert habe, so Nassehi. In den vergangenen Jahren habe es “keine geplante oder gesteuerte Einwanderung” gegeben. “Es wäre ein Fehler, so zu tun, als erzeugte das keine Überforderung und Belastung.”

Aber: “Vielleicht lohnt sich ja der verwegene Gedanke, dass Migration nicht die Ursache demokratischer Krisen ist, sondern dass diese sich am Migrationsthema auf besonders sichtbare Weise zeigen.” Eine Demokratie sei dann bedroht, wenn es zu viele Themen gebe, bei denen es gelinge, den Menschen das Gefühl eines völligen Kontrollverlusts zu vermitteln. “Das Migrationsthema ist dafür wie gemacht.” Demokratische Parteien und Regierungen müssten den Menschen das Gefühl vermitteln, die Dinge im Griff zu haben. “Tun sie das nicht, folgt der Verlust des Vertrauens in die etablierten Akteure. Da stehen wir gerade.”