In einem Hinterhof in Berlin-Wedding treffen sich einmal im Monat ungefähr 30 hochbetagte Damen und Herren im Café Aviator. Sie kommen aus Berlin, sind hier aber nicht geboren. Viele stammen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Sie haben den Nationalsozialismus überlebt. „Kinder der Blockade“, so nennt sich die Gruppe, die ursprünglich aus zahlreichen Überlebenden der Leningrader Blockade (1941–944) bestand. Die Stimmung ist an diesem Tag ausgelassen. Es werden Gedichte und Lieder vorgetragen, Blumen verschenkt, Stollen gegessen und getanzt. Der Vorsitzende der Gruppe, Leonid Iljitsch Berezin, ist 97 Jahre alt. Er tanzt am meisten.
Weniger Zeitzeugen
Doch die Zeit läuft davon. Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen werden weniger, den Besuch an Schulen schaffen sie nicht mehr, erklärt Natalia Roesler, Geschäftsführerin von Club Dialog. Der Verein organisiert die regelmäßigen Treffen. Er wird vom Berliner Senat unterstützt, von der Europäischen Union und – speziell für die Arbeit mit NS-Überlebenden – von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ).
Die Stiftung wurde ursprünglich gegründet, um ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern des NS-Regimes eine Auszahlung humanitärer Ausgleichsleistungen zukommen zu lassen. Heute setzt sie sich durch verschiedene Förderprogramme, Bildungsangebote und Gedenkarbeit für NS-Überlebende ein. Und das seit 25 Jahren.
Förderanträge bis 27. November
„In unserem Jubiläumsjahr erneuern wir unser Versprechen: Wir stehen an der Seite ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und NS-Überlebender. Sie verdienen Aufmerksamkeit, konkrete Hilfe im Alter, Respekt und eine Gesellschaft, die zuhört und handelt. Das ist der Kern unserer heutigen humanitären Arbeit und unsere historische Verantwortung“, sagt Andrea Despot, Vorsitzende der Stiftung.
Diese „konkrete Hilfe“ möchte das Jubiläumsförderprogramm „Keine Zeit zu Vergessen“ bieten. Noch bis zum 27. November können sich Initiativen für Fördermittel – bis zu 150000 Euro – bewerben. Das Programm will Einrichtungen erreichen, die sich Tag für Tag für NS-Überlebende einsetzen. Dabei liegt der Fokus auf hochbetagten NS-Überlebenden aus der ehemaligen Sowjetunion, die heute in Deutschland leben.
Würdevoll Altern
Dazu gehören auch die Menschen, die sich einmal im Monat im Club Dialog treffen. Natalia Roesler erzählt, dass die Stiftungsgelder ungemein wichtig sind: „Von den Senatsgeldern dürfen wir keine Dekoration zahlen, keine Taxis für die Anreise, kein Essen und auch keine Geschenke, wenn jemand aus der Gruppe Geburtstag hat.“ Das ist alles genauso essenziell für die Arbeit: Dem es geht um würdevolles Altern und darum, Räume der Wertschätzung und des Austauschs zu halten.
Das Programm leistet einen wichtigen Beitrag in einer Zeit, in der demokratische Strukturen in Gefahr geraten, Wissenslücken sich vertiefen und Gedenkkultur von rechten Stimmen angegriffen wird. Es versichert NS-Überlebenden, dass sie Unterstützung und Rückhalt aus der deutschen Zivilbevölkerung, aus Institutionen und auch aus Kirchengemeinden erhalten.
