Silvester ist der Tag des Rätselratens. Zumindest dann, wenn nach dem Raclette Zinngießen, also das frühere Bleigießen, auf dem Programm steht. Erst spritzt es, dann zischt es, wenn sich das flüssige Metall vom heißen Löffel in die Schüssel mit kaltem Wasser ergießt. Je nachdem, ob das Metall die Form eines Autos, Balls oder Schmetterlings annimmt, hat man im neuen Jahr Abenteuer, Glück oder Nachwuchs zu erwarten. Da der silberne Klumpen aber selten eine eindeutige Form annimmt, gehen die Interpretationen in der Partygesellschaft meist weit auseinander.
Am Ende versucht jeder, sich seinen Metallbrocken so schönzureden, dass er zu seinen Wünschen passt. Denn an Silvester wollen Menschen seit jeher mit einer gehörigen Portion Glück ins neue Jahr starten. Schon im Mittelalter lärmten sie mit Töpfen, Rasseln und Trommeln, um die bösen Geister zu vertreiben. Heute glaubt kaum noch jemand an böse Mächte aus dem Jenseits. Raketen und Böller gehören trotzdem zu jeder Silvesternacht, die Pyrotechnikbranche ist ein umsatzstarker Wirtschaftszweig.
„Obwohl wir heute in einer aufgeklärten Gesellschaft leben, haben wir noch einen Rest-Aberglauben“, erklärt die Psychotherapeutin Johanna Zabell von der Schönklinik Hamburg-Eilbek. Kaum jemand wolle riskieren, das Glück nicht zu sich einzuladen. „Wir möchten, dass uns das Schicksal gewogen ist. Selbst ich als Naturwissenschaftlerin lese an Neujahr das Horoskop“, sagt Zabell.
Wer gerne nascht, kann auch mit dem Gummibärchen-Orakel einen Blick in die Zukunft wagen. Das Prozedere ist simpel: Mit geschlossenen Augen fünf Gummibärchen aus einer handelsüblichen Haribo-Tüte ziehen, Augen öffnen und in Dietmar Bittrichs Büchern nachschlagen, was die Kombination aus grünen, weißen, orangen und roten Goldbären über die Zukunft verrät.
126 Kombinationen sind möglich. Wer etwa drei rote und zwei weiße Bärchen zieht, droht in den „Wellen der Liebe und Leidenschaft abzuheben“ und „alsbald unsanft abzustürzen“, heißt es in Bittrichs „Gummibärchen-Orakel der Liebe“. Kleiner Lichtblick: Nach der Ziehung dürfen die Bären aufgegessen werden.
Was klingt wie ein Werbetrick der Industrie, beruht laut dem Hamburger Schriftsteller auf einer uralten Orakeltradition und mathematischen Formeln. „Die Bärchen, die Sie ziehen, sagen etwas über Sie aus“, verspricht Bittrich auf seiner Internetseite. Dennoch rät er: „Aber nehmen Sie es mit Humor. Nicht nur dieses Orakel. Sondern jedes Orakel.“
In Mexiko überlässt man sein Schicksal keinen bunten Zuckerbärchen, sondern nimmt es selbst in die Hand – und zwar mit farbiger Unterwäsche. Mit einem grünen Höschen wünscht man sich Gesundheit. Wer unten drunter Gelb trägt, wird reich, ein roter Slip steht für die Liebe.
In Deutschland ist die Farbe der Unterwäsche an Silvester egal. Dafür darf ein Schwarz-Weiß-Klassiker auf keinen Fall fehlen: Den englischen Sketch „Dinner for one“ von 1963 kennt buchstäblich jedes Kind, er läuft an Silvester mehr als 20 Mal im Fernsehen.
Während man in dem 18-minütigen Streifen den Komiker Freddie Frinton dabei beobachtet, wie er unermüdlich über den Kopf eines Tigerfells stolpert, kann man gut einen Berliner zu verspeisen. Das süße Gebäck wird in den Bäckereien um den Jahreswechsel herum mit den exotischsten Füllungen angeboten, von Marmelade über Nugat bis zu Eierlikör. Auf manchen Silvesterpartys wird einer aus Spaß mit Senf gefüllt. Wer den erwischt, wird sich beim ersten Bissen nicht gerade als Glückspilz fühlen. Im neuen Jahr aber – man ahnt es – hat er das Glück auf seiner Seite!
Gesundheitsbewusste können sich die Kalorien von Käsefondue und Berlinern übrigens bereits im Vorwege abtrainieren, und zwar bei den Silvesterläufen, die bundesweit von Lägerdorf im Norden bis Bietigheim im Süden angeboten werden. Das traditionelle Neujahrsbaden, bei dem mehrere hundert Winterschwimmer in die drei bis vier Grad kühle Ostsee hüpfen, ist eine eisige Art, das neue Jahr zu begrüßen. Es vertreibt den Silvester-Kater aber garantiert. Warmduschern hilft dabei auch ein Gericht, das an Neujahr besonders im Norden beliebt ist: hausgemachter Heringssalat.