Der frühere Außenminister warnt: Europa muss erst seine eigene Krise angehen, bevor es den Kurs gegenüber den USA festlegt. Strukturelle Probleme und Job-Sorgen untergraben das Bürgervertrauen, meint der SPD-Politiker.
Bevor die europäischen Länder überlegen, wie sie mit den USA umgehen, sollten sie zuerst auf sich selbst schauen: Dieser Überzeugung ist der frühere Außenminister Sigmar Gabriel (SPD), wie er in einem am Dienstag im “Fränkischen Tag” veröffentlichten Interview sagte. “Denn es ist ja tatsächlich so, dass Trump und seine ideologischen Vordenker durchaus zu Recht die europäischen liberalen Demokratien in einer Krise sehen. Diese Krise ist real – auch bei uns in Deutschland. Ein immer größer werdender Teil unserer Bevölkerung traut den demokratischen Parteien nicht mehr zu, das Land ordentlich zu regieren.”
Diese Zweifel seien keine Erfindung “rechtspopulistischer Propagandisten”, so Gabriel. Trotz hoher Steuereinnahmen seien Schulen, Unis und öffentliche Infrastruktur marode. Das Leben werde teurer, viele Beschäftigte in der Industrie machten sich um ihre Jobs Sorgen. “Wir müssen mehr in Bildung investieren und die strukturellen Probleme beseitigen, die dazu führen, dass immer weniger Firmen in Deutschland investieren. Unsere Unternehmenssteuern sind zu hoch, eine ausdifferenzierte und erdrückende Bürokratie, viel zu lange Planungszeiten, eine sinkende Produktivität plus hohe Energiepreise sind einfach zu viel des Guten.”
Auch in der Nato brauche es eine gemeinsame europäische Verteidigungsstrategie, sagte Gabriel. “Ich würde die USA nicht aus dem Beistandsversprechen entlassen, mich aber gleichzeitig auch nicht darauf verlassen, dass sie es im Notfall einlösen. Wir brauchen in der Nato einen starken neuen Pfeiler, den neben der Europäischen Union auch Partner wie Kanada oder Großbritannien bilden können, vielleicht sogar mit anderen Nicht-Nato-Staaten.”
Europa dürfe sich nicht schwach zeigen, da Trump dies bemerken und ausnutzen würde, um Europa weiter zu spalten. Umso wichtiger sei es, dass der Kontinent sich auf die eigenen Stärken besinne und sich bewusst mache, “dass es auch andere Partner auf der Welt gibt, die sich weder den USA, noch Russland oder China unterordnen wollen”, sagte Gabriel. “Das ist eine große Chance für Europa.”
Zur neuen US-Sicherheitsstrategie sagte Gabriel: “Jetzt wird es wieder heißen, das sei ein Weckruf für Europa. Ich kann das ehrlich gesagt nicht mehr hören. Wie viele Weckrufe soll es noch geben?” Das Papier dürfe eigentlich nicht überraschen, da viele der darin getroffenen Aussagen bereits zuvor getätigt worden seien. “Aber es ist schon erschreckend, das nun schwarz auf weiß zu haben.”