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“Sie sind nicht weg, sie schlafen nur woanders”

Bernhard Barkmann (52) hat seine Stallklamotten gegen Jeans und Pullover getauscht. Der vierfache Vater platziert sich am Kopfende des ausladenden Familien-Esstisches, rutscht auf die vordere Stuhlkante. Eigentlich müsste Barkmann seine gut 1.700 Schweine und Bullen füttern. Nur kurz will er über seine Gefühle als „Empty Nester“ sprechen, als Vater, dessen erwachsene Kinder das Nest, also das Elternhaus verlassen haben.

Er vermisse die gemeinsamen Mahlzeiten am vollbesetzten Tisch. „Aber ich finde auch, sie müssen raus und sich entwickeln“, sagt Barkmann. Umso mehr freut er sich, wenn sie an den Wochenenden zurückkehren. „Letztlich wäre es schön, wenn sie eines Tages mit ihren Familien zumindest wieder in der Nähe wohnen würden“, sagt der 52-Jährige, dessen Eltern eine Etage tiefer leben.

So wie dem Landwirt aus dem Emsland geht es vermutlich den meisten Eltern. Der Auszug der erwachsenen Kinder hinterlässt sie mit zwiespältigen Gefühlen: Sie spüren Stolz und Freude, aber auch Trauer und Einsamkeit. „Das ist seit Generationen eine normale Entwicklungsarbeit für beide Seiten, wenn die Kinder finanziell und emotional selbstständig werden“, sagt die Schweizer Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello.

Bei manchen Eltern könnten die negativen Gefühle allerdings überhandnehmen, ergänzt die emeritierte Professorin der Universität Bern: „Es ist durchaus ernst zu nehmen, wenn die Gefühle von Trauer und Sinnleere nicht aufhören.“ Den häufig dafür verwendeten Begriff „Empty Nest Syndrom“ halte sie allerdings für problematisch, weil er eine Krankheit suggeriere. Die liege aber nur in äußerst seltenen Fällen vor.

„Die Eltern durchleben eine schwierige Phase, müssen sich als Einzelpersonen und auch als Paar neu definieren“, erklärt Perrig-Chiello, die unter anderem zu biografischen Übergängen und zur Entwicklung im mittleren Lebensalter forscht. Sie rät Eltern, sich von Anfang bewusst zu machen, dass Kinder nicht ihr Eigentum seien. Mütter und Väter hätten vielmehr die Aufgabe, sie zu selbstständigen Menschen zu erziehen. „Mit diesem Mindset fällt es leichter loszulassen.“

Auch für Bernhard Barkmanns Frau Corinna (58) ist klar: „Meine Kinder gehören mir nicht. Wenn sie gehen, ist das ein Zeichen, dass wir alles richtig gemacht haben“, sagt die 58-jährige Betriebswirtin und Deutschlehrerin.

Sie sieht sogar viele neue Möglichkeiten und Chancen für sich und ihren Mann. Die Zeit für Zweisamkeit sei in der Vergangenheit immer rar gewesen. „Ich war zwei Monate nachdem wir uns kennengelernt hatten, schwanger. Dann kamen die weiteren Kinder, der Hof, mein Beruf.“

„Ich hoffe auf eine der schönsten Phasen in meinem Leben und sehe einen zweiten Frühling am Horizont“, schwärmt die Mutter von zwei Töchtern und zwei Söhnen. Zwar freue auch sie sich immer, wenn die Kinder zu Besuch kämen – „am liebsten wie an Weihnachten alle auf einmal“.

Aber sie nutzt die gewonnene Zeit auch für neue Hobbies wie Gitarrespielen und Malen. Sich und ihrem Mann hat sie einen Englischkurs an der Volkshochschule verordnet. Auch an einem Wochenendseminar des Bistums Osnabrück unter dem Titel „Das Nest ist leer“ haben beide teilgenommen. Bernhard Barkmann war zunächst nicht begeistert: „Aber es war gut, dass wir mal wieder Zeit für uns hatten ohne Füttern und alles andere hier auf dem Hof.“

Demnächst wollen sie ihre Tochter in Hamburg besuchen und sich die Stadt ansehen. Corinna Barkmann sagt: „Ich habe noch mal einen richtigen Lebenshunger bekommen, zu zweit die kostbare Zeit zu nutzen.“

Die Barkmanns machen ziemlich viel richtig, findet Christoph Hutter, Leiter der katholischen Ehe-, Familien- und Lebensberatung in Osnabrück. Für viele sei die Gestaltung des neuen Lebensabschnitts als Paar die „kribbeligste“ Aufgabe. „Wir sehen bei uns immer mehr Eltern, denen es zu spät dämmert“, sagt der katholische Theologe und Pädagoge. Die Scheidungsrate sei nach dem Auszug der Kinder besonders hoch.

Im Übrigen ist es laut Hutter für manche Eltern genauso schlimm, wenn die Kinder das Nest nicht verlassen. Immer mehr junge Menschen hätten angesichts der Vielzahl von Möglichkeiten Schwierigkeiten sich zu entscheiden: „Ob Studienplatz- oder Partnersuche. Immer mehr Welt scheint in Reichweite. Sie ertrinken in Optionen. Da kann man schon mal erstarren.“

Für die Eltern bleibe in jedem Fall ein versöhnter Blick auf die eigene Erziehungsleistung wichtig, betont Hutter: „Es reicht, wenn wir als Eltern gut genug waren.“ Viele Ratsuchende haderten jedoch mit dem eigenen Perfektionismus. Manche Väter und Mütter belaste auch die Konfrontation mit dem Alter und der eigenen Endlichkeit. Der Austausch mit anderen in gleicher Lage tue den meisten gut, rät der Experte.

Auch auf Günter Berndsen (61) trifft das zu. Gerade ist das letzte seiner drei Kinder ausgezogen und schon steht der nächste Umbruch bevor. In einem guten Jahr geht der Datenverarbeitungstechniker in Rente. „Da wird man schmerzlich auf die eigene Vergänglichkeit hingewiesen.“

Deshalb sei ihm das Seminar „Das Nest ist leer“ gerade recht gekommen. „Es hat mir gutgetan, in einem geschützten Rahmen offen über meine Gefühle sprechen zu können und zu hören, wie andere über diese Phase denken.“

Genau wie die Barkmanns planen auch Günter Berndsen und seine Frau Anja (54) gemeinsame Unternehmungen: Radtouren, Urlaube, Theaterbesuche. Die leeren Kinderzimmer im Haus nutzen sie mittlerweile anderweitig: zum Basteln und als Ankleidezimmer. Eines bleibe aber für Besuche der Kinder, betont Günter Berndsen. „Sie sind ja nicht weg, sie schlafen nur woanders.“