Schwestern treffen sich erstmals nach Jahrzehnten

Ihr Vater hat als einziger seiner Familie die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald überlebt. Er heiratet 1947 in Hessen wieder, wandert aber kurz darauf ohne Frau und Kind in die USA aus. Dort gründet er eine neue Familie.

Als Helen Schaller im September 2023 Post bekommt, macht ihr Mann den Brief auf, schüttelt den Kopf und sagt: „Das ist nichts Richtiges, wir gehen einfach nicht darauf ein.“ Seine Frau stimmt zu. Dem Brief zufolge soll die 76-Jährige eine Schwester in Amerika haben. Sie weiß, dass ihr leiblicher Vater dort lebte, will nach einer unglücklichen Begegnung aber keinen Kontakt mehr. Also weg mit dem Brief.

Doch die Tochter Christa Schaller recherchiert den Absender Arolsen Archives und kommt zu einem anderen Schluss. „Ich habe immer damit gerechnet, dass wir Verwandte in den USA haben“, sagt Christa Schaller einige Monate später bei einem Treffen ihrer Mutter mit deren Halbschwester Sula Miller in Frankfurt am Main. Die 64-jährige Amerikanerin ist zwei Tage zuvor zum ersten Besuch bei ihrer Schwester angekommen.

Sula Miller hatte vor Jahren begonnen, über ihren Vater zu recherchieren. Die Autorin und Dokumentarfilmerin wollte mehr über ihn erfahren, einen Juden, der 1906 in der ehemaligen Tschechoslowakei geboren war. 2019 wendet sie sich an die Arolsen Archives im nordhessischen Bad Arolsen, dem weltweit größten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus mit Hinweisen zu rund 17,5 Millionen Menschen.

Tatsächlich gibt es dort Dokumente, die einen Teil des Lebens von Mendel Müller nachvollziehbar machen, der in den Dokumenten teilweise als Mano Müller geführt ist. Nach Erkenntnissen der Arolsen Archives werden seine damalige Frau und seine Tochter nach der Ankunft in Auschwitz direkt ermordet, er selbst muss in Auschwitz und Buchenwald Zwangsarbeit leisten. Sein 1932 geborener Sohn Max kommt mit etwa zehn Jahren in ein Berliner Waisenhaus und wird kurze Zeit später ebenfalls nach Auschwitz gebracht.

Mendel Müller wird nach dem Zweiten Weltkrieg in Bad Orb als Displaced Person registriert, als Person, die dort nicht beheimatet war. 1947 heiratet er und meldete sich kurze Zeit später in die USA ab. Seine Frau und die gemeinsame Tochter Helen lässt er zurück. Offen bleibt, warum. In Amerika nennt er sich nach seinem ermordeten Sohn Max Miller.

Helen Schaller hat nie nach ihm gesucht: „Ich war ja nur ein paar Tage alt, als er verschwunden ist, und hatte später einen Stiefvater, der sich liebevoll um mich gekümmert hat.“ Sie spricht von einer glücklichen Kindheit, zunächst in Gelnhausen, später in Frankfurt. Als der Vater 1967 unvermittelt vor ihrer Tür steht, kann sie wenig mit dem Fremden anfangen. Nach einem Konflikt verschwindet er so plötzlich wie er aufgetaucht war.

Die Kindheit von Sula Miller war nicht glücklich. Ihren Vater beschreibt sie als „damaged“, als beschädigt. In einem Moment ist er gelöst und freundlich, Sekunden später brüllt er die Namen Hitler und Eichmann und ist seiner Familie gegenüber gewalttätig. Nach vielen Konflikten verlässt er seine Frau und die drei Kinder, als Sula sechs Jahre alt ist. „Ich war erleichtert“, gesteht sie.

Jahre später will sie dennoch erfahren, wer ihr Vater war. Bis heute unbeantwortet bleibt die Frage, ob er schon früh an einer psychischen Erkrankung litt oder ob der Tod seiner Familie im KZ und die Jahre in Haft und Zwangsarbeit ihn zu dem unberechenbaren Mann gemacht haben, der er war.

Die Schwestern, die sich seit Oktober per Zoom kennenlernen und sich vor wenigen Tagen erstmals weinend in den Armen lagen, haben ihre jüdische Abstammung als schwierig erfahren. Beide Mütter waren katholisch. Sula Miller stößt in der amerikanischen jüdischen Gemeinschaft, die sie kennenlernt, als Halbjüdin auf aggressive Ablehnung, ein Teil der katholischen Verwandten mütterlicherseits in Österreich will mit der Jüdin nichts zu tun haben.

Helen Schaller wiederum bläut der Stiefvater Ende der 1940er Jahre ein, bloß niemanden zu sagen, dass ihr Vater Jude ist. „Er hatte einfach Angst“, erinnert sich Hellen Schaller.

Im Gespräch greift Sula Miller immer wieder nach der Hand ihrer Schwester. Sie sucht den Kontakt, und hatte anfangs doch Angst davor. „Ich dachte lange, dass meine Geburt der Auslöser für den Zustand meines Vaters war“, sagt sie. Er war bei ihrer Geburt 54 Jahre alt und möglicherweise überfordert. „Ich wusste aber nicht, ob es Helen genauso geht, weil er kurz nach ihrer Geburt abgehauen ist.“ Sula Miller spricht von einem transgenerativen Trauma, das nicht wenige Nachfahren der Überlebenden in der zweiten und dritten Generation erleiden.

Heute ist beiden Schwestern klar, dass ihr Vater „immer auf der Flucht“ war. Wovor genau, das können sie ahnen, aber nicht wissen. Sicher sind sich beide, dass sie in Kontakt bleiben werden.