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Schreiben des Penzberger Imams Benjamin Idriz zum 7. Oktober 2025

Zum zweiten Jahrestag des Anschlags der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hatte der Penzberger Imam Benjamin Idriz am 6. Oktober 2025 ein öffentliches Schreiben versendet, also noch vor Abschluss des Waffenstillstands und der Rückkehr der israelischen Geiseln. Unter anderem an diesem Text entzündet sich die Kritik an der geplanten Verleihung des Thomas-Dehler-Preises am Mittwoch (29. Oktober) an Idriz. Der epd gibt den Wortlaut im Folgenden leicht gekürzt wieder. Imam Idriz schreibt:

(…) 1. KLARE ISLAMISCHE HALTUNG ZU GEWALT: Unmittelbar nach dem 7. Oktober habe ich eine Stellungnahme veröffentlicht, in der ich den Angriff der Hamas als unislamisch bezeichnet habe. Eine Gewalttat als „unislamisch“ zu bezeichnen, ist theologisch gesehen schwerwiegender, als sie bloß „terroristisch“ zu nennen – denn damit wird zum Ausdruck gebracht, dass sie den Grundwerten und der Ethik des Islam in keiner Weise entspricht. Unschuldige Menschen – Frauen, Kinder und Alte – zu töten, zu verschleppen oder als Geiseln zu halten, widerspricht dem moralischen und rechtlichen Kodex des Korans ebenso wie der ethischen Vorbildlehre (Sunna) des Propheten Muhammad. Wer Unrecht mit Unrecht beantwortet, handelt gegen die göttliche Weisung: „O ihr, die ihr glaubt! Seid standhaft gegenüber Gott als Zeuge für die Gerechtigkeit! Der Hass auf ein Volk verleite euch nicht dazu, feindselig zu sein, so dass ihr ungerecht handelt! Handelt gerecht, das kommt der Gottesfurcht näher.“ (Koran, Sura 5, Vers 8)

Für gläubige Muslime gilt: Die Maßstäbe des Korans stehen über politischen Emotionen, über nationalen Interessen und über allen parteilichen Loyalitäten. Sie verpflichten uns, in jeder Lage die Würde des Menschen zu achten und an Gerechtigkeit und Barmherzigkeit festzuhalten – selbst dann, wenn Schmerz und Unrecht groß sind.

Unmittelbar nach dem 7. Oktober habe ich – gemeinsam mit anderen Imamen in München – eine Initiative ins Leben gerufen, um inmitten der aufgeheizten Stimmung ein versöhnendes Zeichen zu setzen. Statt uns den polarisierenden Demonstrationen anzuschließen, wollten wir eine gemeinsame Botschaft formulieren: Juden, Muslime, Christen und alle Bürgerinnen und Bürger stehen Seite an Seite gegen Hass und Krieg – und für Gerechtigkeit und Frieden. Unsere Initiative wurde damals jedoch sabotiert und mit bemerkenswerter Kälte zurückgewiesen. Heute, zwei Jahre später, habe ich den Eindruck, dass eine solche Initiative von einem großen Teil der Bevölkerung unterstützt würde. Ob Politik und Religionsgemeinschaften nach der tiefen gesellschaftlichen Spaltung tatsächlich zu einem ehrlichen Nachdenken und Umdenken gefunden haben, bleibt für mich offen.

2. DAS LEID DER JUDEN – DAS LEID DER PALÄSTINENSER: Der 7. Oktober wird als die größte jüdische Tragödie seit der Shoah in Erinnerung bleiben. Für das jüdische Volk markiert dieser Tag eine tiefe Wunde, die sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat. Zugleich fällt es vielen Muslimen und Arabern schwer, dieses Leid offen und empathisch anzusprechen – nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil das Leid des palästinensischen Volkes seit mehr als siebzig Jahren andauert und von weiten Teilen der westlichen Öffentlichkeit über Jahrzehnte kaum wahrgenommen wurde. (…) Wahre Menschlichkeit zeigt sich darin, das Leid beider Seiten anzuerkennen – das jüdische und das palästinensische. Nur wer beides sieht, kann der Gerechtigkeit näherkommen und Wege zum Frieden eröffnen.

3. GESCHICHTE BEGINNT NICHT AM 7. OKTOBER: Viele Stimmen im Westen – besonders in Deutschland – sprechen über den 7. Oktober, als wäre davor alles friedlich gewesen. Doch Gaza war schon lange zuvor das größte Freiluftgefängnis der Welt – seit zwanzig Jahren blockiert, wirtschaftlich erstickt und von der Welt isoliert. Zudem befinden sich mehrere tausend Palästinenser – darunter auch viele Minderjährige – in israelischen Gefängnissen, vielfach ohne Anklage oder Gerichtsverfahren. Dieses Unrecht ist Teil jener alltäglichen Realität, die in großen Teilen der Welt kaum wahrgenommen wird.

Auch der fortgesetzte Siedlungsbau im Westjordanland – im klaren Widerspruch zu internationalem Recht und den Resolutionen der Vereinten Nationen – begann nicht am 7. Oktober. Die Demütigung, Entrechtung und Vertreibung von Palästinensern sind keine Episode, sondern eine schmerzvolle Kontinuität über mehr als sieben Jahrzehnte hinweg. Frieden kann nicht aus selektiver Erinnerung erwachsen. Nur wer die ganze Geschichte sieht, kann Gerechtigkeit erkennen – und nur auf Gerechtigkeit kann wahrer Frieden entstehen. Wahrhaftigkeit ist die erste Bedingung jeder Versöhnung. Sie beginnt mit dem Mut, die ganze Wahrheit auszusprechen, auch dann, wenn sie unbequem ist.

4. DER GAZA-KRIEG – EIN MORALISCHER PRÜFSTEIN DER WELTGEMEINSCHAFT: Die militärische Antwort der israelischen Regierung war – und ist – von beispielloser Härte. Fast 70.000 Menschen sind bislang Opfer dieses Krieges geworden, mehr als die Hälfte von ihnen Frauen und Kinder. Ob internationale Gerichte eines Tages von einem Völkermord sprechen werden, bleibt abzuwarten. Doch in der moralischen Wahrnehmung von Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen, gilt das Geschehen schon jetzt als eine humanitäre Katastrophe und als genozidales Verbrechen größten Ausmaßes.

Dieser Krieg hat viele Gewissen auf die Probe gestellt – auch in Europa. Für viele ist der Krieg in Gaza zu einem globalen Prüfstein der Menschlichkeit geworden. Um das Leid in Gaza zu erkennen und zu verurteilen, muss man weder Muslim, Christ, Jude, andersgläubig noch nichtgläubig sein – es genügt, Mensch zu sein. Er hat Israels moralisches Ansehen in der Welt tief erschüttert und gezeigt, dass militärische Macht niemals moralische Legitimität ersetzen kann.

5. ANTISEMITISMUS UND VERANTWORTUNG: Seit dem 7. Oktober haben Antisemitismus und judenfeindliche Übergriffe in Deutschland deutlich zugenommen – eine zutiefst besorgniserregende Entwicklung. Neben tief verwurzelten antisemitischen Vorurteilen erleben wir heute auch neue Formen des Hasses, in denen Jüdinnen und Juden fälschlicherweise für das politische Handeln der israelischen Regierung verantwortlich gemacht werden. Diese Gleichsetzung ist falsch und gefährlich – sie vergiftet das gesellschaftliche Miteinander und schafft neues Unrecht.

Zugleich wünsche ich mir, dass auch jüdische Gemeinden in Deutschland deutlicher machen, dass die Politik der israelischen Regierung nicht mit dem Judentum als Religion oder mit den Werten des Judentums gleichzusetzen ist. Die stillschweigende oder offene Zustimmung mancher Gemeinden zu den Handlungen der israelischen Regierung in Gaza und im Westjordanland ist ebenso besorgniserregend.

Als der sogenannte „Islamische Staat“ (IS) unschuldige Menschen ermordete, wurden Muslime aufgefordert, sich klar davon zu distanzieren. Wir haben dies getan – aus innerer Überzeugung und Verantwortung, nicht aus äußerem Druck. 2015 veröffentlichten alle Imame Münchens gemeinsam eine Erklärung unter dem Titel: „Nicht im Namen Allahs und nicht in unserem Namen.“

Wie heilsam wäre es gewesen, wenn auch innerhalb der jüdischen Gemeinden eine ebenso eindeutige und öffentliche Distanzierung von den Handlungen der israelischen Regierung erfolgt wäre. Das wäre ein starkes Zeichen für Menschlichkeit und Frieden gewesen. Vielleicht hätte dies Vertrauen gestärkt, Missverständnisse verhindert und Antisemitismus eingedämmt.

Ich bin überzeugt: Nur wer moralische Konsequenz zeigt und Unrecht offen benennt – gleich von wem es begangen wird – kann Vertrauen wiederherstellen und den Weg für Versöhnung ebnen.

Muslime sind aus eigener religiöser Überzeugung verpflichtet, das Leben aller friedliebenden Menschen zu schützen – ob jüdisch, christlich, andersgläubig oder nichtgläubig -, denn ein Angriff auf einen Unschuldigen ist ein Angriff auf die gesamte Menschheit. (Koran, Sura 5, Vers 32)

6. DIE EINSEITIGKEIT DER DEUTSCHEN POLITIK: Aus geschichtlicher Verantwortung heraus steht die deutsche Politik bedingungslos hinter Israel. Das ist aus historischer Perspektive nachvollziehbar, doch in seiner Konsequenz wirkt es oft schmerzhaft einseitig. Das Grundgesetz erinnert uns daran, dass Verantwortung nicht selektiv sein darf: Sie gilt allen Menschen, unabhängig von Herkunft, Religion oder politischer Zugehörigkeit. Menschenrechte sind universell – oder sie sind gar nichts.

Ich beobachte, dass viele Muslime in Deutschland das Gefühl haben, übergangen und nicht gehört zu werden. Das Leid der Palästinenser wird kaum öffentlich thematisiert, und viele deutsche Bürgerinnen und Bürger mit palästinensischen Wurzeln, die Angehörige in Gaza verloren haben, blieben ohne sichtbare Anteilnahme. In dieser Sprachlosigkeit wuchs Misstrauen – zwischen Muslimen und Juden, zwischen muslimische Bürgerinnen und Bürgern und Politik.
„Nie wieder“ darf, so denke ich, kein exklusives moralisches Versprechen bleiben. Es muss für alle Menschen gelten – für Juden, Muslime, Christen, Palästinenser und Israelis gleichermaßen. Wer „Nie wieder“ sagt, muss „Nie wieder für jeden Menschen“ meinen.

(…) Möge der 7. Oktober niemals und niemandem wieder geschehen.
Möge das Verbrechen in Gaza ein Ende finden.
Mögen die Geiseln und unschuldigen Gefangenen zurück zu ihren Liebsten kehren.
Möge Versöhnung über Rache siegen.
Mögen beide Völker in Würde und beide Länder in Frieden leben.
Wenn dies nicht geschieht, dann haben wir aus der Geschichte und der Gegenwart nichts gelernt. (3351/27.10.2025)