Schäubles Memoiren: Demut und Selbstbegrenzung als Leitplanken

Wolfgang Schäuble war eine prägende politische Gestalt der vergangenen Jahrzehnte. Was ihn angetrieben hat, zeigen seine Memoiren, die kurz nach seinem Tod erschienen sind.

Gut ein halbes Jahrhundert hat Wolfgang Schäuble die deutsche Politik mitgeprägt – als Minister, Unterhändler der deutschen Einheit, Bundestagspräsident, CDU-Chef und Bundestagsabgeordneter. Am Montag sind seine Erinnerungen erschienen – gut drei Monate, nachdem der 81-Jährige am zweiten Weihnachtstag im Kreis seiner Familie gestorben ist.

Stoiber-Putsch gegen Merkel, Neues zu den Schwarzgeldkonten von Helmut Kohl, das Verhältnis zum Kanzler aus Oggersheim und zur Kanzlerin aus der Uckermark – die Memoiren, die der krebskranke Schäuble im Angesicht des Todes mit Historiker-Unterstützung verfasste, liefern nur wenige harte Schlagzeilen. Immer wieder zeigt das Buch jedoch, innerhalb welcher ethischen Leitplanken der evangelische Christ Politik machen wollte.

Gleich zu Anfang verweist Schäuble auf die italienische Filmreihe „Don Camillo und Peppone“: Als sich Pfarrer Don Camillo mit seinen Sorgen an das Kruzifix in seiner Dorfkirche wendet, bekommt er vom Gekreuzigten die Antwort: „Nimm dich nicht so wichtig.“ Schäuble erinnert daran, dass von Papst Johannes XXIII. eine ähnliche Selbstaussage berichtet wird. „In diesem Rat schwingt eine Reminiszenz an das Menschenbild mit, das einem Christen wie mir naheliegt: die Erinnerung an die Vergänglichkeit. Der Mensch ist verantwortlich, aber nicht allmächtig.“

Demütige Selbstbegrenzung: Das ist, was der 1942 geborene Schäuble auch in den ersten Worten des Grundgesetzes bestätigt findet: „In Verantwortung vor Gott und den Menschen.“ Menschen müssten anerkennen, dass sie nur für die „vorletzten Dinge zuständig“ seien. Und der Protestant zitiert einen Satz des früheren katholischen Bischofs von Dresden, Joachim Reinelt, zum 50. Jahrestag der Bombardierung Dresdens: „Wo immer in der Welt einer nicht mehr weiß, dass er höchstens der Zweite ist, da ist bald der Teufel los.“

Vor diesem Hintergrund hat Schäuble auch seine Position in den großen ethischen Debatten der vergangenen Jahrzehnte formuliert. Ob Embryonenforschung, Präimplantationsdiagnostik oder Sterbehilfe: Er sei stets dem Grundsatz gefolgt, „uns nicht zu früh neuer Möglichkeiten zu berauben, gleichzeitig aber im Zweifel vorsichtig zu bleiben und darauf zu achten, dass die politischen Entscheidungen, die wir treffen, nicht unumkehrbar sind. Denn je mehr der Mensch kann, desto kritischer muss er werden, das gilt von der Genomik bis zur Künstlichen Intelligenz.“

Auf mehr als 600 Seiten zeigt Schäuble, der – wie der „Spiegel“ schreibt – seinem Alter nach eigentlich ein 68er war, dass er wenig von Beatles, Rolling Stones oder Woodstock mitbekam. Schäubles kulturelle Heimat war die badische Provinz mit ihren Institutionen: Kirche, Gemeinderat, Sportverein.

„Die Emanzipations- und Demokratisierungsforderungen der siebziger Jahre – so wichtig sie grosso modo auch waren – durften nicht in haltlosen Individualismus und hedonistischen Egoismus ausufern“, verteidigt Schäuble die von Kohl Ende der 70er Jahre ausgerufene geistig-moralische Wende. „Desorientierung, Überforderung des Einzelnen, Verlust der Gemeinwohlperspektive – dagegen wollten wir angehen.“

Detailliert setzt sich der CDU-Politiker mit den Kirchen auseinander. „Kirche ist für mich ein notwendiger Stachel im Fleisch der Gesellschaft.“ Sie seien Mahnung, nicht bei eigenen Wohlstandsproblemen stehen zu bleiben und Armut und Ausbeutung in anderen Teilen der Welt zu erkennen. Sie seien ein Appell an alle, mit eigenen Möglichkeiten Verantwortung zu übernehmen. Dabei müssten die Kirchen aber aufpassen, „sich dabei nicht nur im Mainstream der Political Correctness mit größter Betroffenheit zu engagieren“. Was ethisch geboten erscheine, könne in der politischen Praxis schlicht nicht umsetzbar sein. „Werte, Interessen und Möglichkeiten sind nicht immer in Deckung zu bringen.“

Eines der Kapitel der „Erinnerungen“ ist mit „Kirche als Heimat“ überschrieben. Darin schildert der Sohn einer württembergischen Protestantin im katholischen Baden, wie sein katholischer Vater exkommuniziert worden sei, weil er seinen Sohn habe evangelisch aufwachsen lassen. Auch habe das Erzbistum Freiburg deshalb verhindert, dass sein Vater für ein Bürgermeister-Amt kandidieren konnte. Indirekt habe Kirche auch dazu beigetragen, seine journalistische Karriere zu verhindern: Als er als Freier Mitarbeiter seiner Heimatzeitung ein Kirchenkonzert verrissen habe, habe sich die Zeitung nicht hinter ihn gestellt, sondern sich beim wütenden Kantor entschuldigt. Erbost habe er die Mitarbeit eingestellt.