„Rivale“ – Film über einen neunjährigen Jungen aus der Ukraine

Ein neunjähriger Junge aus der Ukraine wird nach Deutschland zu seiner Mutter geschleust, die hier illegal als Pflegekraft arbeitet und den Mann heiraten will, um dessen Frau sie sich bis zu deren Tod kümmerte.

In Zusammenarbeit mit filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission gibt die KNA Tipps zu besonderen TV-Filmen:

Nach dem Tod der Großmutter in der Ukraine wird der neunjährige Junge Roman (Jelisar Nasarenko) aus seiner gewohnten Umgebung gerissen und heimlich nach Deutschland gebracht. Hier arbeitet seine Mutter Oksana (Maria Bruni) bereits seit längerem als illegale Pflegekraft. Sie will Gerd Schwarz (Udo Samel), dessen Frau sie bis zu ihrem Tod betreute, heiraten, woraus für das Kind eine gefährliche Rivalität erwächst. Zumal gesundheitliche Probleme das prekäre Verhältnis zwischen dem deutschen Mann und der deutlich jüngeren Ukrainerin brüsk in Frage stellen.

Regisseur Marcus Lenz setzt in seinem Film von 2020 auf Atmosphäre und die Kraft seiner Bilder. Das Szenario jongliert mit Genreelementen, unterläuft tradierte Muster aber auch immer wieder. Das herausragend gespielte Drama überzeugt vor allem durch sein Bewusstsein für eindringliche Metaphern und die spannungsvolle Ambivalenz der Figuren.

Roman, ein 9-jähriger sommersprossiger Junge, wird nach dem Tod seiner Großmutter aus dem bisherigen Lebensumfeld in der Ukraine herausgerissen. Versteckt in einem Lieferwagen, überquert er die Grenzen bis nach Deutschland. Aber die Mutter, die hier illegal als Pflegekraft arbeitet, ist ihm fremd. Und mehr noch der Mann, Gerd, dessen Frau sie bis zu deren Tod vor fünf Monaten betreute.

Gleich zu Beginn von „Rivale“, einer Studie über eine abrupt beendete Kindheit, findet Regisseur Marcus Lenz ein ausdrucksstarkes Motiv für die Verlorenheit des Jungen. Roman sitzt vor einer Tapete, die eine stilisierte Waldlandschaft mit Birken zeigt. Doch die Idylle ist künstlich, ein Imitat der heimatlichen Geborgenheit; das Original ist unerreichbar geworden.

„Rivale“ ist zuallererst eine Erzählung in Bildern und Atmosphären. Die Dialoge sind auf ein Minimum beschränkt. Der Junge versteht kein Deutsch, und Gerd, mit dem er allein bleibt, nachdem seine Mutter plötzlich in ein Krankenhaus eingeliefert wird, spricht kein Ukrainisch. Es hat den Anschein, als verweigere sich Roman der Sprache von Gerd, weil er in ihm jenen Rivalen sieht, der dem Film seinen Titel gibt.

Einmal beobachtet er, wie die Mutter halbnackt mit Gerd scherzt – aus Zuneigung? Oder weil sie sich durch die Verbindung eine bessere Zukunft für sich und den Jungen verspricht? Erst als Gerd Roman beibringt, mit seiner Jagdflinte umzugehen, entwickelt der Junge ein Interesse: das Schießtraining als Vertrauensbeweis, als Versprechen des Erwachsenseins.

Als schließlich auch Gerd, der an Diabetes leidet, nicht mehr für ihn da sein kann, baut Roman ihm eine Art Totenschrein. Doch der Abschied vom früheren Rivalen ist zugleich der Absturz in die tiefste Einsamkeit.

Aus der filmischen Novelle, die leicht ins sentimentale Sozialdrama hätte abdriften können, filtert Marcus Lenz einen dichten Genrefilm. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf entsprechende Fährten – bedient dann aber die Erwartungen doch nicht. Roman, präzise und ausdrucksstark gespielt von Jelisar Nasarenko, verlässt seine Kindheit keinesfalls gereift, sondern wird durch die Umstände auf animalische Instinkte zurückgeworfen.

Das Fauchen und Keuchen gegenüber einem unbekannten Eindringling am Ende des Films assoziiert den Überlebenskampf eines verwundeten Wolfs in der Wildnis. An manchen Stellen erinnert der Film hier an Elem Klimows „Komm und sieh“ mit Alexej Krawtschenko als Fljora.

In „Rivale“ erwachsen die animalischen Instinkte allerdings nicht durch Kriegsgräuel wie bei Klimow, sondern (noch) mitten im fragilen Frieden. Doch auch dieser Frieden hat seine Fallen und Untiefen: den Verlust von Heimat, das Eingesperrtsein in fremder Umgebung, die Enttäuschung von Vertrauen, die Erfahrung falscher Versprechen, Verlustangst, Eifersucht und Sprachlosigkeit.

Nur als Hintergrund klingen Themen wie der Pflegenotstand und der Einsatz illegaler Pflegerinnen aus Osteuropa an. „Rivale“ ist vorwiegend aus der Perspektive von Roman erzählt. Die Kamerablicke sind meist seine Blicke, die Bildmetaphern machen seinen Seelenzustand transparent. Wenn er sich einmal in eine Gardine einrollt, kommt das einer Verpuppung gleich, dem Wunsch nach einer Rückkehr in eine imaginäre Sicherheit. Ameisen als Spielkameraden belegen seine Einsamkeit.

Neben Jelisar Nasarenko überzeugt vor allem Udo Samel als Gerd: zugleich Nutznießer wie Opfer der Umstände, kein Monster, sondern eine facettenreiche Figur, der der Film distanziert, aber nicht abwertend, mit gebotener Ambivalenz begegnet. Ein Mensch, anders und doch ebenso einsam wie Roman.

Gedreht wurde die deutsch-ukrainische Produktion 2020 in der Nähe von Irpin, jener Stadt, die im Ukrainekrieg als eine der ersten angegriffen wurde. Das Hotel, in dem das Drehteam wohnte, wurde von russischen Invasoren geplündert, sein Besitzer verwundet.

Jelisar Nasarenko und die Darstellerin seiner Mutter Oksana, Maria Bruni, leben inzwischen in Berlin. Regisseur Marcus Lenz reist regelmßig mit seiner Frau, einer Fotografin, durch die Ukraine, um den Krieg zu dokumentieren.