Risse im sozialen Gewebe

Eine aktuelle Studie zeigt, dass es um gesellschaftlichen Zusammenhalt besser bestellt ist als erwartet. Aber nur wenige Menschen empfinden die Verteilung wirtschaftlicher Güter als gerecht

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Was sind die Deutschen? Ein Volk von egoistischen, hartherzigen und intoleranten Menschen, die sich um das Wohl des Nachbarn, um das Wohl der gesamten Gesellschaft einen feuchten Kehricht scheren? Dass das nicht der Fall ist, zeigt eine aktuelle Studie, deren Ergebnisse im Dezember vorgelegt wurden. Allen öffentlichen Unkenrufen zum Trotz, so heißt es, sei es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland gut bestellt. Und noch eine positive Nachricht für die Zukunft des sozialen Friedens hält die Studie bereit: Auch die wachsende kulturelle Vielfalt steht dem Gemeinsinn offenbar nicht entgegen.
Allerdings konstatieren die Autoren der Studie eine deutliche regionale Spaltung beim sozialen Miteinander: erstens zwischen Ost und West und zweitens zwischen strukturschwachen und wohlhabenden Regionen.
Für die Untersuchung mit dem Titel „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“ hat das Sozialforschungsinstitut infas im Frühjahr 2017 mehr als 5000 Menschen befragt. Dabei ging es in neun Themenbereichen unter anderem um soziale Beziehungen, emotionale Verbundenheit und Gemeinwohlorientierung. Die Studie wurde im Auftrag der Bertelsmann Stiftung von Wissenschaftlern der Jacobs University Bremen erstellt.
Wie hilfsbereit sind die Bundesbürger? Wie groß ist der Freundes- und Bekanntenkreis und vertrauen sie der Polizei oder Regierung?  Aus solchen und ähnlichen Fragen ergibt sich ein Gesamtbild des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Auf einer Skala von 0 bis 100 Punkten erreichen danach alle deutschen Bundesländer zwischen 57 und 63 Punkten.
Der niedrigste Wert findet sich mit 57,06 in Sachsen. Nordrhein-Westfalen liegt mit 60,71 Punkten im unteren Mittelfeld – gefolgt von Berlin und allen ostdeutschen Bundesländern. Überhaupt zeige sich die insgesamt schwächere Ausprägung des „sozialen Gewebes“ im Osten, sagen die Verfasser der Studie. Dem entsprechen die Antworten auf die Aussage „Der Zusammenhalt in Deutschland ist gefährdet“. Dieser These stimmen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Brandenburg und Thüringen 55 bis 46 Prozent der Menschen zu. In Deutschland insgesamt sind es nur 38 Prozent. Am wenigsten Sorge um den Zusammenhalt haben die Menschen in Hamburg: Dort sehen ihn nur 27 Prozent als gefährdet an.

Im Wohnumfeld klappt es mit dem Miteinander

Interessanterweise fällt die Bewertung des eigenen Umfelds generell besser aus als die der Lage in Deutschland insgesamt. Vor der eigenen Haustür schätzen bundesweit 68 Prozent der Befragten den Zusammenhalt als gut ein, nur knapp sieben Prozent halten ihn für schlecht. In Nordrhein-Westfalen bezeichnen 66 Prozent den Zusammenhalt in der Gegend, in der sie wohnen, als gut und nur sechs Prozent als sehr schlecht. Die konkreten Alltagserfahrungen der Menschen seien also besser als das, was sie für das gesamte Land vermuten – oder was ihnen öffentliche Debatten dazu spiegeln, sagt dazu Stephan Vogel, Programmleiter in der Bertelsmann Stiftung.
Bemerkenswert auch dieses Ergebnis der Studie: Bundesweit werden bei der Frage der Akzeptanz gesellschaftlicher Vielfalt 79 Punkte erzielt. Das ist der höchste Wert in der gesamten Untersuchung. Die Autoren schließen daraus, dass es für den gesellschaftlichen Zusammenhalt keine Rolle spiele, wie viel Ausländer und Migranten in einer Region oder einem Bundesland leben.
Genauer hinsehen muss man allerdings, wenn es um Flüchtlinge geht. Auf die Frage „Hätten Sie Flüchtlinge ungern als Nachbarn?“ antworten deutschlandweit 28 Prozent mit ja. Auch hier sind wieder große Unterschiede zwischen Ost und West festzustellen: Während in Sachsen 45 Prozent der Menschen ungern Flüchtlinge als Nachbarn hätten (das ist der schlechteste Wert), sind es in Bremen nur 16 Prozent. Nordrhein-Westfalen liegt mit 24 Prozent über dem bundesdeutschen Durchschnitt.
Ebenso wie zum Thema Flüchtlinge gibt es auch andere Themenbereiche, wo im Blick auf ein funktionierendes Gemeinwesen noch Luft nach oben ist. Relativ schlechte Werte gibt es der Studie zufolge nämlich etwa im Bereich Gerechtigkeitsempfinden: Nur ein sehr kleiner Teil der Befragten ist  der Meinung, dass es bei der Verteilung wirtschaftlicher Güter gerecht zugeht. Die Zustimmungsraten variieren zwischen gerade einmal einem Prozent in Brandenburg und 15 Prozent in Bremen. NRW liegt mit sieben Prozent einen Prozentpunkt unter dem Bundesdurchschnitt.
Diese „gefühlte Ungerechtigkeit“ sei, so heißt es in der Studie, nicht nur eine Empfindung. Empirische Daten bestätigten schließlich, dass in Deutschland nicht alle die gleichen Chancen auf Bildung und Wohlstand haben. So sei der gesellschaftliche Zusammenhalt dort geringer, wo viele Arbeitslose und arme oder von Armut gefährdete Menschen leben. Vor allem eine hohe Jugendarbeitslosigkeit wirkt sich negativ auf das gesellschaftliche Miteinander aus – ebenso wie ein hoher Anteil von Schulabgängern ohne Hauptschulabschluss und eine überalterte Bevölkerung. Demgegenüber sei der Zusammenhalt dort höher, wo das durchschnittliche Wohlstandsniveau hoch ist und wo mehr Menschen positiv gegenüber der Globalisierung eingestellt seien.

„Zusammenhalt lässt sich nicht erzwingen“

Und wie steht es um Solidarität und Hilfsbereitschaft – beides Indizien für den Zusammenhalt einer Gesellschaft? Auch da ist der Wert mit 47,75 Punkten (auf dem Index von 0 bis 100) durchaus noch zu steigern. Das gilt noch deutlicher für Nordrhein-Westfalen, wo nur 46,56 Punkte erreicht werden. Auch in Sachen Vertrauen gegenüber den Mitmenschen liegt NRW mit 55,34 Punkten knapp hinter dem bundesdeutschen Durchschnitt von 55,58.
„Starker Zusammenhalt lässt sich nicht erzwingen“, heißt es in der Studie. Aber es gebe Wege, ihn zu fördern. Es komme drauf an, die soziale Ungleichheit zu verringern und Armut zu verhindern sowie die ökonomische Situation in den neuen Bundesländern zu verbessern. Vor allem auf lokaler Ebene sollten zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden, dass alle Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben und Kontakte zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen entstehen.

Die Studie „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“ kann auf der Homepage der Bertelsmann Stiftung unter „www.bertelsmann-stiftung.de“ – Publikationen nachgelesen und heruntergeladen werden.