Reck und Revolution – Als patriotische Turner eine politische Bewegung bildeten

Das Turnen war im 19. Jahrhundert überaus politisch. Der Turnverein war ein Treffpunkt für alle, die sich nach einem eine deutschen Nationalstaat und bürgerlichen Freiheiten sehnten.

Für Friedrich Ludwig Jahn war die „Ertüchtigung der Jugend“ am Reck Vorbereitung auf den Freiheitskampf gegen Napoleon
Für Friedrich Ludwig Jahn war die „Ertüchtigung der Jugend“ am Reck Vorbereitung auf den Freiheitskampf gegen NapoleonImago / Leber

Als die letzten fünf Männer die Spitze der spektakulären Menschenpyramiden erklettert hatten, war der Jubel gewaltig. Dann tauchten bengalische Lichter das Bergplateau in mystisches Licht. „Mit einem ‚Lebehoch‘ endigte das Gebotene“, berichtete die Lokalpresse über das erste Feldbergfest am 23. Juni 1844. Rund 6.000 Turner, Sänger und „wahre Volksfreunde“ waren zum „gemeinschaftlichen Gebirgsausflug“ auf den höchsten Taunusgipfel gekommen.

Mitinitiator August Ravenstein, Verleger und Turnvereinsgründer aus Frankfurt am Main, pries vom markanten Brunhildisfelsen herab die gemeinschaftliche Ertüchtigung von Körper und Geist: „Denn freier schlägt das Herz auf freier Bergeshöhe, und frischer strömt des Lebens Quell in jedem Glied, und frommer schwingt der Geist sich auf zu heil’ger Gottesnähe, und fröhlicher ertönt ein frohes deutsches Lied.“

Kapellen, Chöre und Bratwürste

Die Besucher verfolgten Turnvorführungen, das „Steinstoßen der Geübten“, das „Ziehringen als Massenkampf“ und angeleitete Freiübungen. Kapellen spielten, Chöre sangen und auf unzähligen Rosten brutzelten die Bratwürste. Gregor Maier, Leiter des Fachbereichs Kultur und des Kreisarchivs des Hochtaunuskreises, beschreibt den Charakter der Zusammenkunft als „patriotisch-freiheitliche Wallfahrt“ – Geburtsstunde des ältesten Bergturnfestes in Deutschland, das noch heute besteht. „Das Turnen, die Wanderung, das gemeinsame Lied, das Nachtlager, das Naturerlebnis, der Wettkampf und das Auftreten mit den Fahnen, alles wurde zum gemeinsamen Erlebnis“, schreibt Paul Meß in seiner Doktorarbeit „Das Feldbergturnfest“ aus dem Jahr 1958.

1811 hatte die Turnbewegung in Berlin ihren Anfang genommen. Ideengeber war Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852), der auch dem Frankfurter Paulskirchen-Parlament angehörte. Der Hilfslehrer errichtete auf der Hasenheide, die heute zum Berliner Bezirk Neukölln gehört, den ersten deutschen Turnplatz – mit den Geräten Pferd, Ringe und Schwebebalken sowie verschieden hohen Klettergerüsten. Dazu kamen später Barren und Reck.

Sich von Napoleon frei turnen

Diese „Ertüchtigung der Jugend“ geschah nicht ohne politischen Hintergrund: Jahn sah im Turnen eine effektive Vorbereitung auf den Freiheitskampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft. „Umliegendes Waldgelände wurde zu Kriegsspielen mit Spähtrupps und Überfällen genutzt“, schreibt die Historikerin Gertrud Pfister.

Die Turnbewegung war nicht Vorläufer heutiger Sportvereine, sondern eine politische Basisbewegung mit einem Dreiklang an Zielen: die Befreiung von den Franzosen, die Überwindung der feudalen Ordnung und die Gründung eines deutschen Nationalstaats. Die Bewegung fand schnell Zulauf. In Preußen soll es 1818 etwa 100 Turnplätze und 6.000 Turner gegeben haben. Aber: Sie gerieten als Teil der wachsenden Nationalbewegung ins Visier der Herrschenden. Ab 1820 galt eine offizielle „Turnsperre“, auch in Preußen. Das Verbot bestand bis 1840.

Turnerische Selbstverständlichkeit

„Die Turner standen der liberalen und demokratischen bürgerlichen Bewegung nahe. Sie waren der körperkulturelle Zweig des politischen Liberalismus und der Nationalbewegung“, sagte der Sporthistoriker Michael Krüger von der Universität Münster dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Nach der Niederschlagung der Revolution waren die Würfel gefallen: Vereine kümmerten sich um das Turnen und nicht um die Politik, wobei das Eintreten für Einheit und Freiheit nicht als ‚Politik‘, sondern als bürgerliche und turnerische Selbstverständlichkeit galt.“

Vor allem Turner aus dem Südwesten Deutschlands stritten in der Märzrevolution für Freiheit und Bürgerrechte und wurden so zu Geburtshelfern der Demokratiebewegung. Beim Einzug der Abgeordneten des Vorparlamentes am 18. Mai 1848 in die Frankfurter Paulskirche standen Turner Spalier. Unter den Abgeordneten des ersten frei gewählten Parlaments war auch Friedrich Ludwig Jahn. Eine Plakette an der Paulskirche hält die Erinnerung an die Sportler wach: „Die demokratische Vereinsbewegung der Turner war Teil der Revolution von 1848.“