Ein Rausch, Flügelschlagen, blau-gelbe Federn. Mit lautem Schreien stößt der Papagei sich aus der Luft. „Guck mal, der landet auf Papa“, ruft John und deutet nach vorne. Die Kinder sind begeistert. Ein Papagei auf dem Mönchsweg – damit hat hier niemand gerechnet.
Eine Stunde zuvor: Es regnet. Wie so oft in diesem verregneten Juli. Die Scheibenwischer gleiten gleichmäßig über die Scheibe. John (9), Lea (6) und Fiete (2) streiten sich seit 20 Minuten auf der Rückbank darüber, wer wem den meisten Platz wegnimmt. Mein Mann findet die gesamte Aktion „Fahrradtour mit der ganzen Familie zur kleinsten Kapelle Norddeutschlands“ fragwürdig. Ich sende ein Stoßgebet gen Himmel, dass die Stimmung nicht noch weiter sinkt und später jemand die Weiterfahrt mit dem Rad boykottiert.
Der Startpunkt ist Bad Bramstedt auf dem Parkplatz vor dem evangelischen Friedhof an der Glückstädter Straße. Durch ein Wohngebiet geht es über den Bissenmoorweg raus aus der Stadt immer auf dem Mönchsweg entlang. Auf 530 Kilometer Länge verläuft er von Bremen bis Fehmarn – auch durch Bad Bramstedt. Knapp neun Kilometer sind es von hier aus bis zur Waldkapelle nach Mönkloh. Im Vorfeld habe ich vieles recherchiert: Welche Distanz kann man einer Sechsjährigen auf dem Fahrrad zumuten? Wie viel Zeit sollte man einplanen? Auch wenn wir im Alltag viele Wege mit dem Rad fahren – größere Touren haben wir bisher nicht gemacht. John und Lea treten kräftig in die Pedale. „Schau ma. Mehr Gecka!“ Der zweijährige Fiete freut sich von seinem Fahrradsitz aus über jeden Trecker oder Bagger, den es auf dem Weg zu sehen gibt. Und das sind einige. Spätestens auf dem Rehweg. Dort wird aktuell gebaut. Mit dem Fahrrad ist er dennoch befahrbar. Der Sandweg führt uns durch Felder und vorbei an Kuhkoppeln nach Weddelbrook.
Papagei Lio: ein Spektakel und ein blutiger Finger
An Wolters Gasthof von 1787 im Dorfzentrum biegen wir links Richtung Mönkloh ab. Die Stimmung ist noch so gut, eine Pause ist nicht notwendig. Am Ortsausgang treffen wir Lio. Selbstbewusst sitzt der Papagei auf einer Straßenlaterne und lässt sich den Abendwind um den Schnabel wehen. „Der besucht gleich seine Freundin“, erklärt sein Herrchen und blickt mit zusammengekniffenen Augen zu dem blau-gelben Vogel hinauf. Lio ist in Weddelbrook kein Unbekannter. Allabendlich dreht er seine Runden. Für die Kinder ein Spektakel. Für meinen Mann ein blutiger Finger.
Ein Spielplatz lockt die Kinder kurz hinterm Ortseingang. Nun ist es nicht mehr weit bis zur „kleinsten Außenstelle des Vatikans“, wie ihr Erbauer Hans-Jürgen Frese (1934–2019) immer wieder zitiert wird. Der Hamburger pachtete das kleine Fleckchen Land am Waldrand von der Landesforstverwaltung und baute 2001 in Eigenregie die kleine Waldkapelle. Aus Dankbarkeit. Denn die ersten Jahre seines Lebens verbrachte er in einem Waisenhaus in Osnabrück, bevor er in eine Familie aufgenommen wurde.

Gefeiert wird hier nicht nur katholisch. Am 3. Oktober findet jedes Jahr ein ökumenischer Gottesdienst mit bis zu 300 Gläubigen statt. Die Menschen heiraten hier, lassen sich taufen oder machen Rast.
Die Kapelle steht am Rande des Ranzauer Forstes unter sieben prachtvollen alten Buchen, die zusammen einen schützenden Kreis um den fünf Meter hohen Bau bilden. Vier Rosen schmücken das schmiedeeiserne Tor. „Guckt mal, ich brauche nur zwei Schritte, dann bin ich an der Wand“, erklärt John. Gerade einmal fünf Quadratmeter misst die Mini-Kapelle. Vier bis fünf Personen passen in den kleinen Raum mit Bank zum Niederknien.
“Können wir öfter machen!”
In einem Kerzenhalter vor der Madonna brennen ein paar Teelichter, die Besucher angezündet haben. Auch wir zünden eine an. „Wie viele Sachen kann man sich beim Beten wünschen?“, fragt Lea. „So viele du willst“, erklärt ihr Bruder. „Alles in einem Satz?“ Nun, am späten Nachmittag, fällt das Licht der Abendsonne durch das kleine Fenster und lässt das blaue Glas strahlen.
Nach einem kurzen Picknick treten wir den Rückweg an. Ohne Experimente. Denselben Weg vorbei an wilden Pflaumenbäumen. Mit den ersten Regentropfen kommen wir nach eineinhalb Stunden wieder auf dem Friedhofsparkplatz an. Das Fazit ist einstimmig: Können wir öfters mal machen!
