Nach einem Kabinettstreffen 2024 trat Ministerpräsident Fico auf die Straße – und wurde von fünf Kugeln getroffen. Er überlebte knapp. Zum Prozessauftakt ist die slowakische Gesellschaft tief polarisiert.
In der Slowakei hat diese Woche der Prozess gegen jenen Mann begonnen, der vor gut einem Jahr auf Ministerpräsident Robert Fico schoss. Mehrere Tage lang schwebte der Regierungschef im Mai 2024 in Lebensgefahr. Der Attentäter, ein 72 Jahre alter Rentner, muss sich wegen Terrorismus verantworten. Selbst im Fall einer lebenslangen Haftstrafe, da sind sich Experten einig, bleibt die Slowakei ein tief gespaltenes Land: Denn der zunehmend autoritär auftretende Fico polarisiert wie nie zuvor.
Der angeklagte Juraj Cintula wurde am Dienstag von maskierten Polizisten in den Gerichtssaal im zentralslowakischen Banska Bystrica geführt – in Ketten. Nicht nur für die Staatsanwaltschaft ist die Sache klar: Die fünf Schüsse, die der Senior voriges Jahr in der Stadt Handlova auf Fico abfeuerte, zeugen von eindeutiger Tötungsabsicht. Cintula verweigert zwar die Aussage, lässt aber über seinen Anwalt verlauten, er habe Fico nicht töten wollen. Noch weniger sei er ein Terrorist.
Der Mann, der auf den Regierungschef schoss, ist nach eigenen Angaben Schriftsteller und gemeinwohlorientierter Aktivist. Jahrelang schlug er sich als Wachmann und Bergarbeiter durchs Leben. Friedfertig sei er gewesen, wie ein Bekannter vor dem Richter aussagte, doch mitunter temperamentvoll. Eine Waffe soll er erworben haben, um sich – angeblich – vor Bären schützen zu können. Bei Ankunft vor dem Gericht rief Cintula vor den versammelten Reportern: “Lang lebe die Demokratie.” Ein Urteil im Prozess wird vor Jahresende erwartet.
In den Wochen nach dem Attentat arbeiteten Fico und seine Minister akribisch daran, den betagten Schützen mit den progressiven Kräften im Land in Verbindung zu bringen. Über seinen Rechtsbeistand ließ Fico dem Gericht ausrichten: “Der Angeklagte ist Opfer und Produkt einer aktiven Medienkampagne, Propaganda und der falschen Narrative, die von der progressiven politischen Opposition verbreitet werden.” Zsolt Gal, Politikexperte an der Comenius-Universität in Bratislava, meint hingegen: “Er handelte definitiv als Einzeltäter – ohne Verbindung zu irgendeiner Oppositionspartei.”
Fico war 2023 nach drei vorherigen Amtszeiten erneut Ministerpräsident geworden. Seither wird die Kritik an ihm und seinen Koalitionspartnern immer lauter. Im Kultursektor kam es zu Massenentlassungen. Öffentlich-rechtliche Medien krempelte Fico zu seinen Gunsten um, trieb ein Anti-NGO-Gesetz voran und schränkte den Kampf gegen staatliche Korruption deutlich ein. Auch seine Annäherung an Russland samt Besuch bei Wladimir Putin im vergangenen Jahr sorgt für Kritik. Unter dem Motto “Die Slowakei ist Europa” gingen in den vergangenen Monaten Tausende Slowaken auf die Straße. In Umfragen lag zuletzt die proeuropäische Partei Progressive Slowakei vor Ficos Smer-Partei.
Das Attentat hat die Konfrontation nach Auffassung vieler Beobachter maßgeblich verschärft. Zu Jahresbeginn wandten sich mehr als 100 slowakische Psychiater mit einem Brief an den Regierungschef, in dem sie ihm eine spalterische, aggressive Rhetorik vorwarfen. Zudem riefen sie ihn zu mehr Selbstreflexion auf. Er solle “erwägen, die Spitzenpolitik zu verlassen”, so die Mediziner.
Der Politologe Gal sieht in dem Attentat indes keinen entscheidenden Faktor: “Bereits zuvor befand sich Fico auf dem Weg der Radikalisierung, versuchte, die Opposition zu kriminalisieren und steuerte auf eine autoritäre Herrschaft zu.” Die beinahe tödlichen Schüsse hätten diese Tendenzen allenfalls verstärkt.
Einige Kritiker vergleichen die Situation in der Slowakei mit jener in Ungarn. Wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán habe auch Fico missliebigen Organisationen, kritischen Medien und progressiven Kulturschaffenden den Kampf angesagt. “Aber noch stößt er auf etliche Hürden”, meint Gal. Nicht nur sei Ficos Smer-Partei auf eine Koalition angewiesen, die immer wieder wegen Uneinigkeit zu zerreißen drohe. Medien, Zivilgesellschaft und Wirtschaft seien in der Slowakei unabhängiger als im Nachbarland. Nach Einschätzung des Wissenschaftlers könnte Fico an ihnen letztlich scheitern.