Mehr als 100 Verhaftete, Tränengas, Steine und Verletzte. Die Proteste gegen die Milei-Regierung haben in Argentinien eine neue Dimension erreicht. Auch Fußballfans mischen mit.
Der Moment, in dem eine Tränengasgranate die Schädelknochen von Pablo Grillo durchschlug, ist in einem Video festgehalten worden. Grillo, ein argentinischer Fotograf, wollte eigentlich eine Aufnahme von einer brennenden Straßenblockade machen. Doch dann kommt durch die Rauchschwaden hindurch von der anderen Seite das Geschoss, das Grillo zusammenbrechen lässt.
Inzwischen ringt der 34-Jährige im Hospital Ramos Mejia mit dem Tod. Sollte der Fotograf überleben, ist ungewiss, ob er angesichts der Schwere der Verletzung überhaupt noch einmal gesund wird. Am Donnerstagabend (Ortszeit) versammelten sich seine Unterstützer, um gemeinsamen mit Armenpriestern einen Gottesdienst zu feiern.
Die Proteste sind in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires nicht neu. Seit Wochen treffen sich vor dem Kongress immer am Mittwochnachmittag Rentner, um für höhere Renten und gegen die Sparpläne des libertären Präsidenten Javier Milei zu demonstrieren. Doch jetzt ist die Situation gekippt.
Mehr als 100 Menschen wurden am Mittwoch festgenommen, die meisten sind inzwischen wieder auf freiem Fuß. Zahlreiche Menschen wurden verletzt. Die Zeitung “Pagina 12” berichtet, auch der spanische Armenpriester “Paco” Oliveira sei von Polizisten attackiert worden. Fotos sollen den Übergriff belegen.
Unter den Verletzten sollen auch zwei Dutzend Polizisten sein, die mit Steinen beworfen wurden. Die Polizei reagierte den Berichten zufolge mit einem unkontrolliert gefährlichen Tränengaseinsatz. Einer davon führte zur schweren Kopfverletzung von Grillo, der offenbar wie eigentlich für Fotografen üblich keinen Helm trug.
Denn anders als bisher hatten auch Fußballfans an den Protesten teilgenommen. Auch der schwer verletzte Grillo soll Fan des Fußballclubs Independiente sein, dessen Hose er am Protesttag trug. Die konservative Sicherheitsministerin Patricia Bullrich warf daraufhin der Opposition vor, gezielt Chaos verbreitet zu haben. Bei den Fans habe es sich um gewaltbereite Ultras – die sogenannten “Barras Bravas” (Wilde Horden) – gehandelt.
Kabinettschef Guillermo Francos sprach gar von einem Staatsstreich und dem Versuch, das Land gezielt destabilisieren zu wollen. In Sozialen Netzwerken verglichen einige Nutzer das Vorgehen der Fans mit dem Versuch, den Kongress in den USA (Januar 2021) oder in Brasilia (Januar 2022) zu stürmen.
Die Fanszene ist eng mit der argentinischen Politik verbandelt. Der konservative Ex-Präsident Mauricio Macri war beispielsweise eine Zeit lang Präsident der Boca Juniors; der mächtige Gewerkschaftsführer Hugo Moyano wiederum Präsident von Independiente, dem Club des schwer verletzten Fotografen. Die Spaltung in der argentinischen Gesellschaft setzt sich bis in die Chefetagen der Clubs und in die Tribünen fort.
Die “Barras Bravas” sind nicht unumstritten, sie sollen den Tickethandel kontrollieren. Es kommt immer wieder zu rassistischen Ausfällen bei internationalen Spielen mit dunkelhäutigen Spielern.
Auf den Straßen ist es wieder ruhig geworden, doch in Sozialen Medien geht die Debatte weiter. Zu Wort melden sich dort auch Unterstützer von Milei. Sie posteten Videos, die zeigen sollen, wie Anwohner um den Kongress herum Ultras gebeten hatten, keine Autos anzuzünden. Sie seien daraufhin beschimpft und mit Steinen beworfen worden. Milei selbst postete indes das Foto eines Graffitis auf einer Häuserwand, das zu seiner Ermordung aufgerufen hatte.
Die ökonomischen Kennziffern geben seinem Sparkurs allerdings Recht: Die Inflation ging spürbar zurück, der überschuldete Staatshaushalt schreibt wieder schwarze Zahlen. Doch das Leben ist deutlich teurer geworden, und vor allem für Rentner wird das Überleben immer schwieriger und bisweilen unmöglich. Das ist die Schattenseite des radikalen Kurses.
Die Bilder von angezündeten Autos und Steine werfenden Demonstranten auf der einen Seite und einem mit dem Tode ringenden Fotografen und durch Polizisten attackierte Rentner oder Armenpriester auf der anderen Seite werden die polarisierte Stimmung weiter aufheizen. Die zunächst stabilen Umfragewerte von Milei gingen zuletzt zurück.