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Polizistin rief Hunderte Opfer nach “Kölner Silvesternacht” an

Hunderte Anrufe, drei Monate, ein kleines Team: Nach der “Kölner Silvesternacht” vor zehn Jahren suchte die Polizei den direkten Kontakt zu den Opfern. Ihr Ziel: zuhören, einordnen, helfen.

Fast zehn Jahre ist es her, als Anja Kleck und ihre Kollegen telefonierten. Und telefonierten. Und telefonierten. Mehrere hundertmal griffen die Opferschutzbeauftragte der Kölner Polizei und ihr Team zum Hörer. Alle bekannten Opfer der “Kölner Silvesternacht” sollten einen Anruf erhalten. Überwiegend Frauen waren in der Nacht des 31. Dezember 2015 begrapscht und beklaut worden. Die Taten spielten sich vor allem zwischen Hauptbahnhof und Kölner Dom ab. In den Wochen und Monaten danach erstatteten laut Kölner Staatsanwaltschaft 1.304 Personen Anzeige; 661 davon wegen sexueller Übergriffe. In 28 Fällen ging es um “versuchte oder vollendete” Vergewaltigungen.

“Das waren Dimensionen, die habe ich noch nicht erlebt”, sagt Kleck rückblickend. Die 55-Jährige ist seit 2014 Opferschutzbeauftragte der Kölner Polizei. Zuvor arbeitete sie viele Jahre im Kriminalkommissariat für Sexualdelikte. Gewalt, Missbrauch, Vergewaltigung – als Ermittlerin hat sie viel gesehen. An ihrem neuen Amt mag sie den Perspektivwechsel. Dass sie den Opfern nicht mehr so viel abverlangen muss, etwa bei Vernehmungen oder Begleitungen zu gynäkologischen Untersuchungen. Dass sie ab und zu ein “Danke” hört. “Viele rechnen gar nicht mit so einer Unterstützung.”

Nach der “Kölner Silvesternacht” bestand Klecks Hauptaufgabe im Telefonieren. Im Zuhören, wie es den Frauen geht. Im Weitervermitteln an Traumaambulanzen und Fachberatungsstellen. Im Aufklären über Opferrechte. Die meisten Frauen, mit denen sie sprach, hätten einen stabilen Eindruck gemacht. “Ich bin ja zeitversetzt an die Menschen herangetreten”, sagt die Kriminalhauptkommissarin. “Viele konnten in der Zwischenzeit mit Familie und Freunden über das Erlebte sprechen. Da gab es oft die Reaktion: Ja, das war kein schönes Ereignis, aber ich habe das gut verkraftet, und ich benötige im Moment keine Hilfe.”

Einige der Frauen seien aber durchaus noch verängstigt gewesen und hätten etwa unter Schlafstörungen gelitten. “Dann habe ich erläutert, dass das ganz normale Reaktionen sind auf dieses unnormale Ereignis, das sie erleben mussten. Das hilft vielen Menschen dabei, das einzuordnen”, erklärt Kleck. Wenn Angstsymptome jedoch nicht besser würden – und sie sollten jeden Tag ein wenig besser werden – sei professionelle Hilfe nötig. In einigen Fällen habe sie Frauen direkt an Traumaambulanzen und Fachberatungsstellen vermittelt. So hätten die Opfer nicht selbst anrufen und das Erlebte schildern müssen. “Das ist oftmals eine große Hürde.”

All ihren Gesprächspartnerinnen bot Kleck einen Hausbesuch an. Das sei eigentlich nicht die Regel. Doch die “Kölner Silvesternacht” sei ein herausragendes Ereignis gewesen, “wo es uns ein ganz großes Anliegen war, den Menschen persönliche Angebote zu unterbreiten”. Zwei besonders betroffene Frauen hätten das auch angenommen. Zu Hause habe sie ihnen Hilfsangebote vorgestellt, Opferrechte erklärt – und anschließend den Kontakt zu Traumaambulanzen hergestellt.

Zuständig für die Opferkontakte war Kleck gemeinsam mit ihrem damaligen Kollegen. Wegen der hohen Anzahl an Betroffenen unterstützte sie zudem der Opferschutzbeauftragte aus Bonn. Kleck alleine rief rund 300 Telefonnummern durch – alle Betroffenen aus Köln und Leverkusen. Ihre Kollegen informierten die Polizeidienststellen an den Wohnorten der übrigen Geschädigten. Die dortigen Beamten griffen ebenfalls zum Hörer.

Wer nicht ranging, erhielt eine E-Mail. Wer auf die Mail nicht antwortete, bekam Post. Klecks Team arbeitete auch am Wochenende. Insgesamt wurden den Angaben zufolge mehr als 1.000 Opfer kontaktiert, und ihnen wurde Hilfe angeboten. Das dauerte rund drei Monate, wie sich die Wahl-Kölnerin erinnert.

Unterdessen arbeitete die Staatsanwaltschaft ebenfalls unter Hochdruck. 335 Beschuldigte konnten im Zusammenhang mit der Tatnacht namentlich ermittelt werden. Überwiegend handelte es sich um junge Männer aus Algerien und Marokko. Das führte schnell zu einer scharfen Debatte über Migration und Asyl.

Auch an der Kölner Polizei wurde Kritik laut. Der Einsatz sei chaotisch verlaufen, die Beamten seien überfordert gewesen. In den Monaten danach verstärkte die Polizei ihre Präsenz bei Großveranstaltungen, etwa beim Karneval 2016. “Natürlich hat man alles daran gesetzt, dass sich so etwas nicht wiederholt”, sagt Kleck. “Das hat gegriffen. Ich glaube, dass die ‘Kölner Silvesternacht’ ein einmaliges Ereignis bleiben wird.”