Politologe: Cancel Culture ist zum Kampfbegriff geworden

Der Politikwissenschaftler Marc Partetzke ist dem Eindruck entgegengetreten, dass die sogenannte Cancel Culture auf dem Vormarsch ist. „Ich kann das Gefühl nachvollziehen, empirisch belegen lässt es sich aber nicht“, sagte der Professor für Politikdidaktik und Politische Bildung an der Universität Hildesheim im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Einzelfälle werden medial stark aufgebauscht, Cancel Culture ist ein Kampfbegriff geworden.“

Ende Juni war eine Rede der CDU-Bundestagsabgeordneten Mareike Wulf zum Selbstbestimmungsgesetz an der Uni Göttingen in die Schlagzeilen geraten. Menschen, die Wulfs Thesen als queerfeindlich erachteten, störten ihre Ausführungen so massiv, dass die Politikerin nicht sprechen konnte. Ähnliche Vorfälle gab es in letzter Zeit immer wieder. Der Begriff Cancel Culture steht für den Versuch, als diskriminierend empfundene Positionen aus gesellschaftlichen Debatten auszuschließen.

„Beweggründe sind in der Regel, dass Positionen, die als rassistisch, antisemitisch, homophob, transfeindlich und so weiter erachtet werden, keine Bühne bekommen sollen – das kann ich erst mal gut nachvollziehen“, sagte Partetzke. Problematisch aber sei es, wenn solche Bewertungen von Privatpersonen vorgenommen werden. Ob Aussagen justiziabel seien, müssten Gerichte entscheiden. „Was rechtlich nicht zu beanstanden ist, muss zugelassen werden – das muss eine Demokratie aushalten.“

Störaktionen wie in Göttingen schadeten der Diskurskultur auch, weil sie die Zuhörerschaft entmündigten, sagte der Politikwissenschaftler. Es wirke so, als müsse das Auditorium geschützt werden, anstatt anzuerkennen, dass Menschen dazu in der Lage seien, sich mit anderen Positionen kritisch auseinanderzusetzen. „Das ist eine absurde Vorstellung, ein Abgesang auf die politische Urteilsfähigkeit.“

Er könne sich vorstellen, dass Befürworter von Störaktionen ihm entgegnen würden, dass etwa Transmenschen strukturell so benachteiligt seien, dass sie gegen diskriminierende Äußerungen geschützt werden müssten, sagte Partetzke. „Da ist sicher auch was dran.“

Eine Möglichkeit, Augenhöhe herzustellen, sei es, interaktivere Formate zu wählen, sodass möglichst alle Teilnehmer einer Veranstaltung zu Wort kommen. „Bei einem Vortrag ist das Risiko natürlich groß, dass der Vortragende viel Raum für seine Ansichten bekommt, während die Zeit für kritische Nachfragen knapp ist.“

Studenten könnten Vortragsgäste darum bitten, ihnen ihre Kernthesen vorab zuzusenden. „So kann man sich vorbereiten und das Gefälle durch den Wissens- und Kompetenzvorsprung des Vortragenden verringert sich.“

Nach Ansicht von Partetzke ist es wichtig, in einer Gesellschaft kontrovers zu diskutieren. „Wir leben ohnehin in so wirkmächtigen Echokammern“, dass gerade die „Überlappungsräume“, die Unis eröffnen, die Möglichkeit bieten, unterschiedliche Sichtweisen zu einem Gesamtbild zu fügen.