Auf Druck der Kirchen haben Polens Oberste Richter die Regierungspläne für den Religionsunterricht bis auf Weiteres gestoppt. Die Glaubensgemeinschaften pochen auf ein Mitspracherecht – mit guten Chancen.
Sie ist die umstrittenste Richterin Polens: Julia Przylebska. Die Präsidentin des Verfassungstribunals in Warschau steht dem Chef der nationalkonservativen Oppositionspartei PiS, Jaroslaw Kaczynski, nahe. Manche Gegner halten sie ihm gegenüber sogar für unterwürfig. Noch heikler vielleicht: Eine Minderheit von sechs Verfassungsrichtern meint, dass ihre legitime Amtszeit als Gerichtspräsidentin bereits 2022 endete. Geht es nach der Mitte-Links-Regierung von Donald Tusk, müssten Przylebska und andere Verfassungsrichter ohnehin längst zurücktreten, weil sie unter der ehemaligen PiS-Regierung rechtswidrig an ihre Richterposten gekommen seien.
Przylebska läßt sich davon nicht beeindrucken. Die 64-jährige Juristin gab am Donnerstagabend bekannt, dass das Verfassungsgericht eine einstweilige Verfügung gegen eine Verordnung von Bildungsministerin Barbara Nowacka zum Religionsunterricht erlassen hat. Sie teilte das allerdings nicht auf der Gerichts-Website mit, sondern im oppositionsnahen TV-Kanal wPolsce.pl. Zu Beginn eines halbstündigen Interviews sagte Przylebska, ihr Gericht werde demnächst über die Rechtmäßigkeit der Verordnung entscheiden. Bis dahin dürfe sie nicht angewendet werden.
Vordergründig geht es in dem Streit vor dem Obersten Gericht um die Frage, ob Kinder etwa aus den Klassen 1 bis 3 gemeinsam in Religion unterrichtet werden dürfen, wenn in einer Klasse weniger als sieben Schülerinnen und Schüler von ihren Eltern für das Wahlfach angemeldet wurden. Die Verordnung des Bildungsministeriums von Ende Juli sieht das Zusammenlegen von verschiedenen Jahrgängen in solchen Fällen vor. Damit reagiert das Ministerium nach eigenen Angaben auf den Rückgang der Zahl der Schülerinnen und Schüler, die den Religionsunterricht besuchen.
Der Fall wird aber auch zur Nagelprobe, ob die seit Dezember 2023 amtierende Tusk-Regierung Entscheidungen des Verfassungsgerichts überhaupt anerkennt. Sie verweist auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser hatte festgestellt, dass das polnische Verfassungstribunal keine “mit dem Rechtsstaatsprinzip zu vereinbarende Behörde” sei. Denn Richterinnen und Richter seien unter der abgewählten PiS-Regierung nicht ordnungsgemäß berufen worden.
Trotzdem wandten sich die katholische Kirche und der Polnische Ökumenische Rat vergangene Woche gemeinsam an das als PiS-nah geltende Gericht. Sie baten insbesondere um die Prüfung, ob das Bildungsministerium eine solche Verordnung ohne Einwilligung der Kirchen erlassen dürfe. Denn das Schulgesetz schreibe vor, dass der zuständige Minister beim Erlass einer Verordnung zum Religionsunterricht “im Einvernehmen mit den Behörden der katholischen Kirche und der Polnischen Autokephalen Orthodoxen Kirche sowie anderen Kirchen und religiösen Vereinigungen” handeln müsse.
Vertreter des Bildungsministeriums und der katholischen Bischofskonferenz hatten bei zwei Treffen über die Pläne von Ressortchefin Nowacka gesprochen – ohne Einigung. Ein jahrgangsübergreifender Religionsunterricht widerspreche pädagogischen Grundsätzen und sei “schädlich oder sogar diskriminierend”, so der zuständige Weihbischof Wojciech Osial. Kinder und Jugendliche hätten das Recht, so unterrichtet zu werden, wie es ihrem Alter und ihrer Entwicklung entspreche. Das Ministerium setzte sich darüber hinweg. Schon bisher würden Kinder verschiedener Jahrgänge in kleinen Schulen in vielen Fächern gemeinsam unterrichtet, verteidigt es sich.
Vor dem Verfassungsgericht pochen die Kirchen auf ihr Mitspracherecht bei der Organisation des Religionsunterrichts. Zweifellos hatten frühere Regierungen bei diesem Thema Wünsche und Einwände der Kirchen berücksichtigt. Mitunter unterschrieben Kirchenvertreter sogar staatliche Verordnungen mit.
Vizebildungsministerin Katarzyna Lubnauer wies die Glaubensgemeinschaften am Freitag ziemlich schroff zurecht. Das Bildungsministerium, nicht die Bischofskonferenz organisiere die Arbeit der Schulen, so die Politikerin von Tusks Bürgerkoalition: “Die Schule soll den Schülern dienen, nicht den Interessen der Kirchen.” Der Streit eskaliert also, obwohl Weihbischof Osial noch vor einer Woche versichert hatte: “Wir wollen eine Einigung und keinen Krieg um die Religion in der Schule.”