Die Arte-Doku “Polens Rückkehr zur Demokratie” zeigt kurz vor einer wichtigen Wahl, dass die Gräben in der polnischen Gesellschaft weiter tief sind – etwa bei Abtreibung, Migration und dem Verhältnis zu Russland.
Die Bilder von Freude an einem Wahlabend, mit denen der knapp einstündige Film einsetzt, sehen vertraut aus. Bloß die Farben und Symbole sind andere. Tatsächlich liegt räumlich wie zeitlich nahe, was zu sehen ist: “Polens Rückkehr zur Demokratie” beschäftigt sich mit der letzten und der nächsten nationalen Wahl im Nachbarland. Bei der letzten hatte 2023 die zuvor seit 2015 regierende, nationalkonservative PiS-Partei verloren.
Donald Tusk wurde Ministerpräsident, was nicht nur in Deutschland für Erleichterung sorgte. “Die Hoffnung vieler Polen war groß”, etwa auf Wiederherstellung von Gewaltenteilung und unabhängiger Justiz, betont der Off-Kommentar -und fragt weiter: “Hat sie sich erfüllt?” Nein, zeigt sich. Nur ein Bruchteil der Wahlversprechen sei erfüllt worden, Polens Abtreibungs-Gesetz etwa “noch immer eines der rigidesten in Europa”, beklagen Befragte.
Und das muss nicht unbedingt einen Vorwurf gegen Regierungschef Tusk bedeuten, auch wenn ein neues Abtreibungsgesetz bereits am konservativen Koalitionspartner scheiterte. Der Ministerpräsident muss nicht nur mit einer schwierigen Mehr-Parteien-Koalition regieren – genau wie es hierzulande zur gleichen Zeit Olaf Scholz nicht gelang. Überdies kann in Polen der Staatspräsident Gesetze blockieren. Diesen Posten bekleidet weiterhin der PiS-nahe Andrzej Duda – noch bis zur turnusgemäßen, gespannt bis angespannt erwarteten Präsidentschaftswahl am 18. Mai. In dieser Lage zeigt die Arte-Doku ein weiterhin zerstrittenes Land.
Recht ausführlich geht es um das Fernsehen. Die öffentlich-rechtliche Anstalt Telewizja Polska (TVP) stand Ende 2023 im Zentrum sogar körperlicher Auseinandersetzungen, nachdem die neue Regierung die von der PiS eingesetzte Führungsriege entlassen hatte. Nun sind viele PiS-nahe Ex-TVP-Journalisten für den Privatsender TV Republika aktiv, sprechen von der “Fessel der politischen Korrektheit”, ihrem “Haus der freien Rede” und reklamieren Reichweitenerfolge. Für TVP will der Redaktionsleiter Maciej Czajkwoski “die Gesellschaft versöhnen, neu aufbauen” und “den Zuschauern wieder ein kritisches Denken beibringen”.
Noch eine Hand voll weitere Perspektiven bringt Filmautor Lutz Pehnert ein. Zwei sehr junge Journalisten, die auf Tiktok mit Fragen wie “Wenn Ihre Partei eine Eiscreme wäre, welche Sorte?” Gleichaltrige für Politik interessieren wollen, wirken bemerkenswert entspannt. In der Peripherie der östlichen Wälder, in denen wieder Bisons leben, wurde der gut zwei Milliarden Euro teure “Schutzschild Ost”-Zaun gegen von der belarussischen Diktatur gesteuerte Migration in Tusks Amtszeit auf sechs Meter erhöht.
Doch zufrieden scheint niemand. Eine Aktivistin beklagt sogar noch schärfere Menschenrechtsverstöße der Tusk-Regierung. Die alternde Bevölkerung fühlt sich abgehängt und neigt weiterhin der PiS zu. Nicht einmal die Sorge vor dem nahen Aggressor Russland bildet einen gemeinsamen Nenner. Zumindest habe eine neue rechtsextreme Partei, deren Kandidat sich auch als “polnischer Donald Trump” geriere, prorussische Neigungen, erfährt man knapp.
Kurzum: Formal unspektakulär, zeigt “Polens Rückkehr zur Demokratie” allerhand Facetten eines Landes, das offenkundig tief gespalten ist – wie die meisten Demokratien derzeit. Solche Reportagen, die auf der Suche nach unterschiedlichen Perspektiven durch ein Land reisen, sieht man insbesondere vor Wahlen häufig aus den USA und Großbritannien, mitunter aus Frankreich. Bloß der Nachbarstaat Polen gerät selten in den deutschen Blick, obwohl Parallelen außer zu demokratischen Rechtsstaaten an sich auch speziell zu Deutschland mit Händen zu greifen sind.
Heikle Fragen nach weiteren partiellen Gemeinsamkeiten wirft am späten Themenabend (00.25 Uhr) die französisch-polnische Koproduktion “Geschichte der Juden in Polen: Das Ringen um Wahrheit” anhand von Debatten über eine “polnische Mitschuld am Völkermord der Deutschen” und Antisemitismus auf, nicht zuletzt mit Szenen heftig geführter Fernsehdiskussionen. Ein “Angriff des Staates auf die Geschichte”, also auf die Geschichtsschreibung, habe mit dem Regierungsantritt der PiS begonnen und endete mit der Wahlniederlage 2023 nicht, zeigt der Film von Joanna Grudzinska.