Pflichtjahr: Falsch verstandene Freiheit

Alle junge Menschen sollen nach Ende ihrer Schulzeit einen sozialen Pflichtdienst leisten. Lange galt diese Forderung hierzulande als aussichtslos. Jetzt ist sie wieder im Gespräch. Und sie ist uneingeschränkt unterstützungswürdig. Denn so ein Pflichtdienst hätte – neben vielen weiteren begrüßenswerten Folgen – vor allem die eine herausragende Wirkung: Es wäre ein deutliches Signal dafür, wie sehr sich die Gesellschaft auf den Gemeinsinn zurückbesinnen muss. Und es wäre eine Einübung darin. Beides wäre bitter nötig.

Es war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der diese Forderung jüngst wieder in die Diskussion gebracht hat und ihr große Aufmerksamkeit beschert. Steinmeier greift dabei auf Gedanken zurück, die ein Mann der Kirche schon zuvor geäußert hatte: Ulrich Pohl, Vorstandsvorsitzender der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, beschreibt in seinem Buch „Ein JA muss sein. Plädoyer für ein allgemeines Soziales Jahr in Deutschland und Europa“ detailliert, warum ein Pflichtdienst sinnvoll wäre. Seit Jahren zersplittert die Gesellschaft. In Milieus, Blasen, Gruppen und Grüppchen, die sich immer weiter voneinander abschotten. Zusammenhalt und Verständnis? Versuche, die Andere oder den Anderen zu verstehen? Dazu müsste man sich erst einmal näher kommen, in Kontakt treten, einander begegnen. Aber freiwillig geschieht das zu selten. Die Begegnungs- und Lernmöglichkeiten fehlen zunehmend. Und genau an dieser Stelle würde ein allgemeines Pflichtjahr jungen Menschen solche Möglichkeiten an die Hand geben, sagt Pohl. Und man muss ihm zustimmen.

Sicher, es gibt Gegenrede. Zum Beispiel von denen, die auf Freiwilligkeit setzen. Statt eine Pflicht zu schaffen, sollten Anreize gegeben und Rahmenbedingungen verbessert werden. Das klingt gut und ist ein bisschen blauäugig. Denn es verkennt den eigentlichen Stolperstein des Ganzen. Es geht bei dieser Argumentation ja immer um den Gedanken: Ein Pflichtdienst verstoße gegen fundamentale Freiheitsrechte.

Aber gerade hier zeigt sich der Kern des ganzen Problems: ein falsch verstandener, völlig überzogener Freiheitsbegriff. Der ist in den vergangenen Jahren in der westlichen Welt immer weiter vorgedrungen. Aber dadurch wird er nicht richtiger. ICH meine. ICH darf. ICH will. Die fast ausschließliche Konzentration darauf, was das Individuum begreift oder auch nur wünscht, droht den Blick darauf zu verstellen, dass auch die Gemeinschaft, die ANDEREN UND ICH, ihr Recht hat – und dieses Recht auch einfordern muss, wenn die ganze Sache nicht den Bach runtergehen soll.

So könnte ein Pflichtdienst vielleicht dabei helfen, den katastrophalen Pflegenotstand zu lindern. Einwände, das dürfe nicht über billige, verpflichtete Arbeitskräfte geschehen, sondern über regulär bezahlte Kräfte, sind zwar richtig. Dennoch könnten die jungen Menschen bei der Hilfe für Pflegebedürftige unterstützen und dabei auf den  Geschmack für diesen Beruf kommen.

Jahrzehnte des Zivildienstes haben gezeigt, dass ein Pflichtdienst gut für die Gesellschaft ist und den Verpflichteten wertvolle Erfahrungen bieten kann, Orientierung und Weichenstellungen. Sie DÜRFEN nicht nur, sie MÜSSEN sich dorthin begeben, wo sie ihre Horizonte erweitern, eingefahrene Gleise verlassen, Vorurteile überwinden, Kompetenzen erwerben.

Wir leben in einer Gemeinschaft. Wir genießen ihre Freiheiten, Rechte und Vorzüge. Aus dieser Gemeinschaft ergeben sich aber auch Verantwortung und Pflichten, damit das Ganze nicht zerbricht. Es ist höchste Zeit, sich darauf zurückzubesinnen. Ein sozialer Pflichtdienst wäre ein wertvoller Beitrag dafür und ein starkes Zeichen.