Pflegende Angehörige beklagen dramatische Situation

Wenn in einer Familie ein Pflegefall eintritt, steht die Welt oft Kopf. Auf Angehörige wartet ein harter Job – oft neben dem Beruf. Ein Verband schlägt deshalb Alarm: Die häusliche Pflege stehe vor dem Kollaps.

Der Berliner Jochen Springborn kümmert sich seit 20 Jahren um seine an Multipler Sklerose (MS) erkrankte Ehefrau. Die in Wallenhorst bei Osnabrück lebende Krankenschwester Bärbel Börger pflegt ihre neunjährige Tochter mit einer Behinderung. Ein Fulltime-Job auf viele Jahre.

“Der Lebensalltag ist durchgetaktet oder orientiert an dem, was die Pflege oder der Zustand meiner Frau erfordert”, sagt Springborn. Und die gelernte Intensivkrankenschwester Börger weiß, dass die Welt in einer solchen Situation für alle Familienmitglieder Kopf steht: Sorgen um die Gesundheit, die Pflege und manchmal auch um das Leben des Kindes. Belastungen für die Partnerschaft und finanzielle Sorgen, da der Arbeitsmarkt für Mütter mit Kindern mit Behinderung oft unerreichbar ist.

Beinahe täglich müssen mehr als 7 Millionen pflegende Angehörige in Deutschland einen Spagat vollbringen zwischen Beruf, Pflege, Ansprüchen an das eigene Leben und die sozialen Beziehungen. Familien sind, so ein oft gebrauchtes Schlagwort, der größte Pflegedienst der Nation. Mehr als 85 Prozent der 5,3 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden in den eigenen vier Wänden versorgt. Doch glaubt man dem Interessenverband von Angehörigen “wir pflegen”, dann hat sich die Politik in den vergangenen Jahren vor allem um die weitaus kleinere Gruppe der Pflegebedürftigen in Heimen gekümmert. Das müsse sich nach der Bundestagswahl dringend ändern, fordert der Verband.

Von einer “dramatischen Situation” der häuslichen Pflege sprach Verbandsvorständin Edeltraut Hütte-Schmitz am Donnerstag in Berlin. Immer häufiger erreichten sie SOS-Notrufe von pflegenden Angehörigen. Viele von ihnen stünden vor dem Burnout. Aus ihrer Sicht hat sich die Situation der häuslichen Pflege in den Jahren der Ampel-Regierung verschlechtert: steigende Eigenbeiträge. Immer mehr ambulante Pflegedienste, die aus Personalnot oder wirtschaftlichen Gründen Pflegebedürftige ablehnen. Und ein riesiger Mangel an Entlastungsangeboten wie Tages- und Nachtpflege, Kurzzeitpflege und Verhinderungspflege, auf die die Pflegeversicherung eigentlich einen Rechtsanspruch garantiert.

Hütte-Schmitz verweist als Beispiel darauf, dass es bei mehr als 4,2 Millionen Betroffenen in häuslicher Pflege nur 96.000 Plätze für Tagespflege gebe. Der in der Pflegeversicherung verankerte Rechtsanspruch könne deshalb oft nicht eingelöst werden. Die entsprechenden Budgets verfielen. Und Börger ergänzt, dass es für Kinder und Jugendliche gar keine geeigneten Angebote gebe – man könne sie ja schließlich nicht in einer Alteneinrichtung unterbringen. 2022 hatte der Sozialverband VdK ausgerechnet, dass auf diese Weise pro Jahr Leistungsansprüche im Wert von mindestens zwölf Milliarden Euro verfallen.

Die Belastungen für pflegende Angehörige, über die Hütte-Schmitz, Springborn und Börger berichten, hat die AOK im Mai durch eine Forsa-Umfrage bestätigt. Das Resultat: Wer in Deutschland Angehörige pflegt, muss dafür immer mehr Zeit und Geld aufbringen. Statt 43 Wochenstunden wie 2019 benötigen die befragten Pflegepersonen derzeit 49 Stunden für Tätigkeiten wie Ernährung, Körperpflege und Medikamentenabgabe.

Auch die finanzielle Belastung der Angehörigen nimmt laut der AOK-Studie zu. Trotz höherer Leistungen aus der Pflegeversicherung sei der – durchschnittliche – Eigenanteil von knapp 200 Euro 2019 auf 290 Euro im Monat gestiegen. Zugleich führt die Belastung durch die Pflege dazu, dass die Angehörigen bei ihrer eigenen Berufstätigkeit zurückfahren müssen. Nur 46 Prozent der Hauptpflegenden arbeiteten in Vollzeit, 37 Prozent in Teilzeit. 18 Prozent der Befragten sei gar nicht beschäftigt.

Nicht nur aus Sicht von “wir pflegen” ist deshalb nach der Bundestagswahl ein Paradigmenwechsel gefordert. Die Pflegeversicherung müsse zur Vollversicherung ausgebaut werden; alle Bürger sollten einzahlen und alle Einkommensarten herangezogen werden. Zudem sollten pflegende Angehörige besser gestellt werden: etwa durch Familienpflegezeit, Familienpflegegeld und eine Berücksichtigung der Pflegeleistungen in der Rente. Auch Städte und Gemeinden müssen sich laut Hütte-Schmitz mehr für Pflege zu Hause engagieren und stärker in Beratung und sozialen Zusammenhalt investieren. Pflege müsse zur kommunalen Pflichtaufgabe werden.