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Pflege in der Krise – Auf der Suche nach dem großen Wurf

Es ist ein Konflikt mit Ansage. Dass die Zahl der Pflegebedürftigen steigen wird, ist nicht neu. Auch Personalmangel, Überforderung von Angehörigen und steigende Kosten in Heimen waren absehbar. Wo ist der Ausweg?

“Beim Thema Finanzierung der Pflege ist die Bevölkerung ähnlich ratlos wie die Bundesregierung: am liebsten Vollversicherung, aber kosten darf es nicht mehr – auch nicht für die nachfolgenden Generationen.” Der Pflegeexperte und Sozialforscher Thomas Klie bringt die Situation der Pflegeversicherung auf den Punkt. Seit Jahren sind die Probleme bekannt – aber ungelöst. Und nach einer am Dienstag veröffentlichten Allensbach-Umfrage sinkt deshalb das Vertrauen der Menschen in die Pflegeversicherung. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) nennt Themen, die dabei eine Rolle spielen werden.

Die Babyboomer werden die Situation der Pflege massiv verändern. Nicht nur, dass die Zahl der Pflegebedürftigen in den kommenden Jahren stark zunehmen wird. Auch bei den professionell Pflegenden scheiden bald viele aus dem Arbeitsleben aus. Das bedroht die Versorgung älterer Menschen stark.

Die Zahl der Pflegebedürftigen hat sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt: Erhielten 2003 etwas mehr als zwei Millionen Menschen Leistungen der Pflegeversicherung, sind es mittlerweile 5,8 Millionen. Pro Jahr kommen durchschnittlich 300.000 Personen hinzu, 2023 sogar 360.000.

Hintergrund sind die Alterung der Gesellschaft, aber auch Reformen der Pflegeversicherung, die zu mehr Leistungsempfängern führten. Bis 2055 dürfte die Zahl nach Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes auf mehr als sieben Millionen steigen.

Das Jahresergebnis der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) belief sich 2024 einschließlich Verwaltungsaufwendungen auf 68,2 Milliarden Euro. Im Vergleich zum Vorjahr stieg es damit um 15,1 Prozent. Leistungsausgaben von 63,3 Milliarden Euro standen Einnahmen von 66,6 Milliarden gegenüber.

Nach Berechnungen von Experten steuert die Pflegeversicherung in diesem Jahr auf ein Defizit von 1,8 Milliarden Euro zu, 2026 wären es demnach 3,5 Milliarden Euro. Um die Finanzsituation kurzfristig zu stabilisieren, hat Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) für die kommenden beiden Jahre ein Darlehen von insgesamt zwei Milliarden Euro zugesagt, die allerdings ab 2029 zurückzuzahlen sind.

Die Pflegekassen sehen zunächst den Bund in der Pflicht, mit Steuermitteln zu stützen. Die Pflegeversicherung habe Corona-Hilfen von rund sechs Milliarden Euro ausgelegt. Zwischenzeitlich hatte es Signale aus den Koalitionsverhandlungen gegeben, dass versicherungsfremde Leistungen wie die Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige und die Ausbildungsumlage aus Steuergeldern gezahlt werden sollten. Das alles ist nicht mehr im Koalitionsvertrag enthalten. Denkbar sind auch Leistungskürzungen; diskutiert wurden sie zuletzt beim Pflegegrad eins.

Der Beitragssatz zur Pflegeversicherung war zum 1. Januar 2025 um 0,2 Prozentpunkte auf 3,6 Prozent angehoben worden. Seit Jahren gibt es Debatten über strukturelle Reformen auf der Einnahmenseite: SPD und Grüne sind für eine Bürgerversicherung, in die auch Beamte und Selbstständige einzahlen. Darüber hinaus wird darüber diskutiert, dass Gutverdiener höhere Beiträge leisten, etwa durch eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze. Kanzler Friedrich Merz (CDU) hat sich für mehr Eigenvorsorge ausgesprochen. Er schlägt eine private Pflegezusatzversicherung vor.

Die monatliche Eigenbeteiligung für Pflegeheimbewohner beträgt im bundesweiten Durchschnitt im ersten Jahr etwa 3.108 Euro, variiert aber je nach Bundesland und Einrichtung stark. Für immer mehr Bewohner droht diese steigende Eigenbeteiligung zur Armutsfalle zu werden. Sie rutschen in die Sozialhilfe – und das, obwohl die Pflegekassen sich mit einem Leistungszuschlag an den Kosten beteiligen. Die Pflegekassen sehen hier vor allem die Länder in der Pflicht, die Finanzierung der Investitionskosten zu übernehmen. Auch gibt es Forderungen, dass Besserverdienende einen höheren Anteil an den Heimkosten zahlen.

Auch die mehr als 15.000 ambulanten Pflegedienste klagen über Personalnot, gesundheitliche Probleme der Pflegekräfte und eine schlechte wirtschaftliche Situation. Von den 5,7 Millionen pflegebedürftigen Menschen in Deutschland werden 86 Prozent zu Hause versorgt, davon etwa eine Million mit Unterstützung von Pflegediensten. Viele Angehörige fühlen sich überfordert. Entlastungsmöglichkeiten wie Tages- und Kurzzeitpflege sind zwar gesetzlich zugesichert; es gibt aber zu wenige Angebote. Bundesfamilienministerin Karin Prien (CDU) hat angekündigt, ein Pflegegeld einführen zu wollen – eine Lohnersatzleistung für pflegende Angehörige. Angesichts der Finanzsituation dürfte das aber wenig Chancen haben.

Die Situation der Pflege könnte verbessert werden, wenn ältere und pflegebedürftige Menschen länger in ihren eigenen vier Wänden leben können – durch Unterstützung der pflegenden Angehörigen oder durch soziale, hauswirtschaftliche und medizinische Angebote sowie Beratung in Stadtteilen und Dörfern. Experten schlagen außerdem neue Wohnformen wie etwa ambulant betreute Wohngemeinschaften oder Mehrgenerationenhäuser vor. Außerdem könnten Vorbeugung und Rehabilitationsangebote dafür sorgen, dass Pflegebedürftigkeit verhindert oder aufgeschoben wird.

Der Deutsche Pflegerat geht davon aus, dass bis 2034 rund 500.000 Pflegekräfte (in Kranken- und Altenpflege) fehlen werden. Bereits jetzt seien 115.000 Stellen nicht besetzt. Es geht also darum, mehr Menschen für den Pflegeberuf zu gewinnen und zu halten – durch attraktivere Arbeitsbedingungen, Werbung im Ausland und neue Berufsfelder. Flexiblere Arbeitszeitmodelle wie die Vier-Tage-Woche könnten eine weitere Maßnahme sein.

Bei der Bezahlung haben die Pflegekräfte enorm aufgeholt. So ist zum 1. Juli der Mindestlohn für Pflegefachkräfte auf 20,50 Euro pro Stunde gestiegen, qualifizierte Pflegehilfskräfte mit mindestens einjähriger Ausbildung erhalten mindestens 17,35 Euro pro Stunde und Pflegehilfskräfte mindestens 16,10 Euro. Die Mindestlöhne in der Pflege sind damit deutlich höher als der allgemeine Mindestlohn.