In der Nacht leuchtet die Skyline von Asunción. Moderne Glastürme ragen in der paraguayischen Hauptstadt zwischen kolonialen Bauten in den Himmel. Die Hochhäuser sind Ausdruck des wirtschaftlichen Wachstums des kleinen südamerikanischen Landes. Mit Ausnahme der Pandemiejahre ist das Bruttoinlandsprodukt in den vergangenen 15 Jahren jährlich um drei bis elf Prozent gestiegen.
Das Land boomt und trotz gewisser Schwankungen nehmen die Exporte der Hauptprodukte Fleisch, Soja und Mais seit Jahren zu. So wurden 2023 Einnahmen von knapp zwölf Milliarden US-Dollar erzielt, ein beachtlicher Wert für ein Land mit nur 6,1 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Entsprechend niedrig ist die Arbeitslosenquote, die 2024 bei 6,1 Prozent lag.
Dennoch kommt Paraguay bei der Bekämpfung der Armut kaum voran. Seit 2013 ging der Anteil der Menschen, die nicht genügend Einkommen für ein würdevolles Leben haben, lediglich von 27 auf 20 Prozent zurück. „Wir haben Wirtschaftswachstum ohne Entwicklung“, erläutert die Ökonomin Verónica Serafini. Das Wachstum geschehe zulasten der unteren Bevölkerungsschichten.
„Die Lebensbedingungen vieler Menschen haben sich kaum verbessert“, erklärt sie. Viele hätten mehrere Jobs gleichzeitig und müssten am Wochenende solidarische Tombolas organisieren, um etwa Krankenhauskosten für Angehörige zu finanzieren. Die staatliche Gesundheitsversorgung ist mangelhaft und übernimmt Arzneimittelkosten oft nur teilweise.
Dazu kommt, dass der gesetzliche Mindestlohn von umgerechnet etwa 315 Euro häufig nicht gezahlt wird, etwa bei informellen Arbeitsverhältnissen oder gesetzlichen Ausnahmen. Zudem hält die jährliche Anpassung des Mindestlohns nicht mit der Verteuerung der Lebenshaltungskosten Schritt. Während die allgemeine Inflationsrate 2024 bei vier Prozent lag, stiegen die Preise für Früchte, Fleisch und Milchprodukte um bis zu 24 Prozent.
Jorge Contreras sitzt in einem Kiosk nahe der westlichen Stadt Encarnación und trinkt mit Arbeitskollegen ein Feierabendbier aus Plastikbechern. Der Bauarbeiter verdient mit umgerechnet zehn Euro pro Tag weniger als gesetzlich vorgeschrieben. Was ihn aber mehr beschäftigt, ist die fehlende staatliche Grundversorgung. „Der Staat sollte mehr in Bildung und Gesundheit investieren. Dafür sollten wir alle mehr Steuern zahlen.“
Die Steuerquote in Paraguay liegt bei nur zehn Prozent. Zugleich ist Steuerhinterziehung weit verbreitet. Statt diese zu bekämpfen, setzt die Regierung auf niedrige Steuern und Schlupflöcher, die Geldwäsche begünstigen. Kriminelle Organisationen, internationale Firmen und spitzfindige Einzelpersonen siedeln sich offiziell in Paraguay an, um woanders der Verfolgung durch Finanzbehörden zu entgehen. Nach Angaben der US-Regierung stammen etwa 30 Prozent des paraguayischen Bruttoinlandsprodukts aus Geldwäsche. Auch Teile der Skyline von Asunción sollen so finanziert worden sein.
Die konservative Regierungspartei Partido Colorado hat seit ihrer Gründung 1887 fast 100 Jahre lang regiert, in den vergangenen acht Jahrzehnten nur fünf Jahre nicht (2008-2013). Über ein Drittel der Bevölkerung, rund 2,4 Millionen Menschen, gehören ihr als Mitglieder an. Sie bietet medizinische Hilfe, Arbeitsvermittlung und Subventionen für Studiengänge oder Ausbildungen. Was der Staat nicht leistet, übernimmt die Partei.
Als der Progressive Fernando Lugo nach seinem Wahlsieg 2008 versuchte, den Sozialstaat auszubauen und das Einkommen gerechter zu verteilen, setzte ihn die Opposition im Parlament auf Initiative der Partido Colorado bereits 2010 wieder ab. Politischer Wandel ist in Paraguay ungewollt.
In vielen lateinamerikanischen Ländern wie Argentinien, Kolumbien oder Mexiko konzentrierte sich die Macht über Jahrzehnte auf wenige Familien, demokratische Regeln galten vor allem formal. Doch während sich immer mehr Länder der Region langsam davon lösen, prägt das System familiärer Oligarchien die Wirklichkeit in Paraguay weiter.
Der Ausweg sei für viele das Auswandern, sagt Ökonomin Serafini. Offiziellen Zahlen zufolge haben in den vergangenen 20 Jahren etwa eine halbe Million Paraguayerinnen und Paraguayer das Land Richtung Argentinien, USA oder Spanien verlassen.