“Fast ein kleiner Kirchentag” – das ökumenische Kulturkirchenfest prägt an diesem Wochenende die Innenstadt von Chemnitz. Kirche, Kunst und Kultur dabei gehen Hand in Hand und manchen Unsichtbares sichtbar.
Reist man per Zug in die Europäische Kulturhauptstadt Chemnitz und tritt auf den Bahnhofsvorplatz fällt der Blick unweigerlich auf eine große, gelbe Leuchtschrift: “Fürchtet euch nicht”. Die Ankommenden empfängt eine der häufigsten und eindringlichsten biblischen Ermutigungen. Dieses Zitat, das schon bei friedlichen Revolution 1989 in Kirchenräumen als Leitspruch Hoffnung stiftete, hat das Chemnitzer Künstlerduo “DOPPELDENK” nun als Installation in den öffentlichen Raum getragen.
Das passt zum Motto der Kulturhauptstadt “C the unseen” (Sieh’ das Ungesehene/Das ungesehene C), das Un- und Übersehenes in den Blick nimmt und dem eine Bühne gibt. An diesem Wochenende gehört die Bühne der christlichen Minderheit in der sächsischen Industriestadt – beim ökumenischen Kulturkirchenfest in der Innenstadt. Es ist der erklärte Höhepunkt des vielfältigen, übers Jahr verteilten Programms, das die katholische und evangelische Kirche gemeinsam zum Kulturhauptstadt-Jahr beitragen.
Unter dem Leitwort “Geht hin und seht” erwarteten Besucherinnen und Besucher am Samstag in der merklich belebten Innenstadt zahlreiche Podien, Workshops, Bibelarbeiten, Gottesdienste, spirituelle Angebote und viel Musik. Auf einer Kirchenmeile präsentieren sich kirchliche Initiativen, gibt es Mitmach-Theater, Hau den Lukas und Popcorn.
“Es ist fast wie ein kleiner Kirchentag”, sagt Ex-Bundesminister Thomas de Maizière augenzwinkernd. 2023 war er Präsident des Evangelischen Kirchentags in Nürnberg. In Chemnitz hält er nun eine Bibelarbeit. “Kirche muss raus aus ihren Mauern und das ist hier eine gute Gelegenheit”, betont er. Wenn eine Stadt ein Jahr lang Kultur besonders ins Zentrum stelle, dann sei es richtig, dass Kirche dabei auch einen wichtigen Platz einnehme, denn schließlich seien die Kirchen über Jahrhunderte prägend für die Entwicklung von Städten gewesen.
Der monumentale schwarze Karl-Marx-Kopf – “Nischel”, wie die Chemnitzer das Wahrzeichen ihrer Stadt liebevoll nennen – blickt durchs Blätterwerk auf die Bühne im Stadtpark. Dort startet das erste Podium. “Es ist eine gute Gelegenheit, dass wir uns als Kirche in die Stadtgesellschaft einbringen. Wir investieren hier, weil es wichtig ist, dass wir in der Stadtgesellschaft einen Platz haben”, sagt der sächsische Landesbischof Tobias Bilz. “Wir sind vielleicht noch aus DDR-Zeiten so geprägt, dass wir eher zurückhaltend sind. Aber es ist wichtig, dass wir uns zeigen und unsere Themen präsentieren.”
Sein katholischer Amtsbruder, Bischof Heinrich Timmerevers, sieht noch einen weiteren Aspekt, den die Kulturkirche befördert habe: “Ich habe den Eindruck, durch diese gemeinsame Aufgabe eine Kulturkirche zu verlebendigen ist die Ökumene, ist das Miteinander, das Verständnis füreinander gewachsen.” Beide Bischöfe sehen in Kunst einen guten “Zubringer”, um auch Nicht-Christen einen Zugang zu Religion zu eröffnen. “Ich glaube, Kunst hat für den Glauben und wie über den Glauben gesprochen wird, eine enorme Bedeutung”, sagt Bilz.
Eines der Highlights derzeit in Chemnitz ist die große Edvard-Munch-Schau mit dem Titel “Angst” im Museum Gunzenhauser. Auch dort findet an diesem Samstag eine Bibelarbeit statt. “Angst ist etwas, was wir häufig verstecken”, erläutert die Chemnitzer Künstlerin Beate Düber den Bezug zum Motto des Kulturhauptstadt und erklärt, wie Munch, selbst vielfach traumatisiert, in seinen Werken die inneren Dramen der Menschen thematisiert. Warum die Führung als “Bibelarbeit” deklariert ist, bleibt zwar offen, doch die Zuhörerinnen und Zuhörer sind dennoch begeistert. “Es ist wie die Bischöfe vorhin sagten: Manchmal befruchten sich Kunst und Kirche und manchmal stehen sie auch einfach gut nebeneinander”, sagt einer.
Chemnitz teilt sich den Titel Europäische Kulturhauptstadt mit der slowenisch-italienischen Stadt Nova Gorica/Gorizia. Auch von dort sind Gäste zum Kulturkirchenfest gekommen, darunter Erzbischof von Gorizia, Carlo Roberto Redaelli, der zum Überwinden von Grenzen aufruft.
Integriert in das Kulturkirchenfest ist ein Chorfestival. Über 1.500 Sängerinnen und Sänger sind angereist, um an wechselnden Orten der Innenstadt zu musizieren. Als Höhepunkt versammeln sie sich alle am Nachmittag zusammen mit der Elblandphilharmonie auf dem Neumarkt zum großen Konzert.
Den Tag beschließt um 22 Uhr ein Abendsegen auf dem Neumarkt. Am Sonntag findet dort um 10 Uhr noch ein Gottesdienst mit den Bischöfen Timmerevers und Bilz sowie Chören aus Tschechien und dem britischen Manchester statt, mit dem das Kulturkirchenfest ausklingt.