Ökumene ist ein Pilgerweg

Ein jetzt auch auf Deutsch erhältliches Buch dokumentiert die Geschichte des ÖRK von seiner Gründung bis heute

Mehr als 350 Mitgliedskirchen aus über 120 Staaten, die zusammen etwa 580 Millionen Christen vertreten: Für diese beeindruckenden Zahlen ist der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) heute bekannt. Er steht wie keine andere Institution für ein globales Miteinander von christlichen Kirchen verschiedener Konfessionen. Wie der Rat zu dem wurde, was er ist, schildert Donald W. Norwood in seinem Buch, das jetzt erstmals auf Deutsch erschienen ist.

Das Ende des Zweiten Weltkrieges lag erst drei Jahre zurück, als sich 351 Vertreterinnen und Vertreter von 147 evangelischen, anglikanischen und orthodoxen Kirchen in Amsterdam trafen. Dies war ein vollkommen neuartiges Treffen von Christen aus aller Welt. Schon der Eröffnungsgottesdienst in der Nieuwe Kerk vermittelte deutlich sichtbar die Botschaft, dass allein Christus die höchste Herrschaft auf der Erde gebührt – nach der zuvor die Nazis zwölf Jahre lang vergeblich gestrebt hatten, auf Kosten von Millionen Menschenleben. Von der „siegreichen Herrschaft Gottes“ war die Rede. Alle Delegierten einte die Überzeugung, dass nur Gott Menschen nach dem Weltkrieg wieder zusammenbringen kann – und der unbedingte Wille, als globale Bewegung dauerhaft einen gemeinsamen Weg zu gehen.

Das war die Geburtsstunde des Ökumenischen Rates der Kirchen. Den Beteiligten war von Anfang an bewusst: Ökumene entsteht nicht von heute auf morgen, sondern ist eine Bewegung, ein langwieriges Streben nach Einheit, ein Pilgerweg, der viel Arbeit kostet. Wie dieser Pilgerweg verlief, wie diese Kirchengemeinschaft das christliche und politische Leben in der Welt geprägt hat und noch heute prägt, beschreibt Donald W. Norwood in seinem Buch „Pilgerweg des Glaubens – Der Ökumenische Rat der Kirchen stellt sich vor“. 2018, zum 70. Gründungsjubiläum des ÖRK, erschien es im Original auf Englisch, seit diesem Jahr gibt es im Luther-Verlag eine deutsche Ausgabe – passend zur bevorstehenden elften Vollversammlung, die zum ersten Mal in Deutschland tagt.

Donald W. Norwood ist Journalist, Ökumeneforscher, Prediger der britischen United Reformed Church und weltweit mit Gleichgesinnten vernetzt. Den Weg, den die Mitgliedskirchen gemeinsam gegangen sind, schildert er in zehn Kapiteln – entsprechend den zehn bisherigen ÖRK-Vollversammlungen, die sich über die ganze Welt verteilen, von Uppsala bis Canberra und von Vancouver bis Busan. Von Beginn an verstand man sich als eine Gemeinschaft von selbstständigen nationalen Kirchen und nicht als eine „Über-Kirche“, die über ihre Mitgliedskirchen herrscht – im Gegensatz zur katholischen Kirche, die eine einzige, internationale Kirche ist und weltweit über ihr globales Oberhaupt miteinander verbunden ist.

Weltpolitik und Kirche gehören zusammen

Norwood stellt dar, wie sich globale politische Entwicklungen in der Arbeit des ÖRK widerspiegeln und wie Weltpolitik und Kirchenpolitik sich gegenseitig beeinflussten: So fanden bei der zweiten Vollversammlung 1954 erstmalig Laien und Frauen in den Amtskirchen Gehör und werden in offiziellen Dokumenten berücksichtigt. In dieser Zeit richtete sich der Blick des ÖRK über Europa und Nordamerika hinaus und man schlug die Brücke zwischen „Erster“, „Zweiter“ und „Dritter“ Welt nach damaligem Verständnis. Entsprechend war die Vollversammlung 1961 in Neu-Delhi ein Meilenstein der Ökumene als erste internationale christliche Versammlung in einem Land, in dem Christen eine verschwindend kleine Minderheit sind.

Der Vollversammlung 1968 ging eine unvergleichlich ereignisreiche Zeit voraus: Die nur knapp abgewandte Eskalation des Kalten Krieges, der verschärfte Nahostkonflikt, der Vietnamkrieg, Studentenproteste und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung rund um Martin Luther King bestimmten das Weltgeschehen. Die katholische Kirche hatte sich wenige Jahre zuvor beim Zweiten Vatikanischen Konzil für die internationale Ökumene und den interreligiösen Dialog geöffnet. Die Gemeinsame Arbeitsgruppe von ÖRK und katholischer Kirche war an den Start gegangen. Norwood resümiert: „Wir sprechen miteinander. Und hören einander zu! Gelobt sei Gott! Fast 400 Jahre lang, zwischen dem Konzil von Trient und dem Zweiten Vatikanischen Konzil, haben wir kaum miteinander gesprochen.“

Auch die große Bedeutung der Versammlung 1975 in Nairobi wird deutlich: Auf der einen Seite standen die neuen politischen Selbstständigkeiten, das Ende der europäischen Kolonialherrschaft und der Boom des Christentums in vielen Ländern Afrikas, auf der anderen Seite Apartheid, Rassismus, Diktaturen, Unterdrückung, Bürgerkriege und eine sehr schwache Wirtschaft.

Als Nelson Mandela der Stargast der Vollversammlung 1998 in Harare (Simbabwe) war, galt er als einer der damals inspirierendsten Menschen der Weltöffentlichkeit, neben seinem Landsmann Erzbischof Desmond Tutu. Vier Jahre zuvor hatte er die ersten demokratischen Wahlen Südafrikas gewonnen, war Präsident geworden und hatte die Apartheid überwunden. Gleichzeitig verübten in Ruanda die herrschenden Hutu einen Völkermord an den Tutsi. Weder die UN noch der ÖRK widersetzten sich dem, stattdessen unterstützten die meisten Kirchenoberhäupter die Regierung Ruandas und ihre Lehre von der Überlegenheit der Hutu. Auch mit Kritik daran spart Norwood nicht.

Brücken statt Gräben zwischen Konfessionen

1968, bei der ersten ÖRK-Vollversammlung nach dem bisher letzten großen Konzil der katholischen Kirche, keimte die Hoffnung auf, dass es künftig wieder ökumenische Konzilien gibt, die für alle Christen sprechen können. Eine überaus erwähnenswerte Brücke zur Antike: Das erste große ökumenische Konzil des Urchristentums, nämlich 325 in Nicäa, wurde von Kaiser Konstantin einberufen. Dieser war Politiker, kein Theologe. Sein vorrangiges Interesse war die Sicherung des Friedens in seinem Reich und keine Glaubensinhalte. Entsprechend stand die erste ÖRK-Vollversammlung unter dem Eindruck des gerade beendeten Weltkrieges und des beginnenden Kalten Krieges, ebenso das Zweite Vatikanische Konzil.

All dies kommt in Norwoods Buch lebhaft und ohne wissenschaftliche Ausschweifungen zum Ausdruck. Viele Exkurse erläutern die Hintergründe zu den Entscheidungen, die zu bestimmten Zeiten aktuell waren. Man lernt darüber, wie die vielen Kirchen sich über alle Glaubensunterschiede hinweg immer wieder zu einem gemeinsamen Weg entschlossen haben. Wie die Kirchen sich zur Politik positionieren. Wie sie im Kalten Krieg trotz des Eisernen Vorhangs weltpolitisch neutral und offen blieben. Schließlich stellte der britische Bischof Lesslie Newbigin 1991 fest, dass weder Kapitalismus noch Kommunismus bewiesen hätten, dass sie für den Erhalt der Schöpfung Sorge tragen können.

Beim interreligiösen Dialog ganz vorn dabei

Man erfährt, wie das Christentum nach einem Umgang mit anderen Religionen suchte und wie der interreligiöse Dialog auf den Weg gebracht wurde. Wie die Kirchen ihren Umgang mit dem Judentum suchten, auch angesichts der eigenen oft stark judenfeindlichen Vergangenheit. Wie der ÖRK die politische Aufmerksamkeit immer wieder auf Themen wie Kinderrechte, Religionsfreiheit, Feminismus, Aids oder Folter rückte. Und dass die ökumenische Einheit der Kirchen und der Frieden unter den Nationen der Welt von Anfang an eng miteinander verbunden waren. Entsprechend verstand sich der ÖRK immer als enger Partner der UN – eine Partnerschaft, deren Bedeutung viele Historiker erfahrungsgemäß unterschätzen.

Ein überaus lesenswertes Buch für alle, die die globale ökumenische Bewegung und ihre Wechselbeziehungen zur Weltpolitik genauer verstehen wollen.