„Noch wach?“ – ein „typischer Schlüsselroman“

Benjamin von Stuckrad-Barre hat mit „Noch wach?“ ein Buch veröffentlicht, das als Schlüsselroman über die Me-Too-Affäre bei Springer gilt. Davon ist auch Literaturwissenschaftler Franzen überzeugt.

In Stuckrad-Barres Roman geht es um Machtmissbrauch bei einem Fernsehsender, dessen Chefredakteur an Ex-Bild-Chef Julian Reichelt erinnert
In Stuckrad-Barres Roman geht es um Machtmissbrauch bei einem Fernsehsender, dessen Chefredakteur an Ex-Bild-Chef Julian Reichelt erinnertImago / teutopress

Der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen sieht in Benjamin von Stuckrad-Barres „Noch wach?“ das Paradebeispiel für einen Schlüsselroman. Dass Stuckrad-Barre selbst diesen Begriff ablehne, sei kein Widerspruch, sagte Franzen dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Im Gegenteil: Es ist geradezu konstitutiv für den Schlüsselroman, dass man sagt, er sei kein Schlüsselroman.“ Stuckrad-Barre behaupte dies jedoch eher augenzwinkernd, denn die Parallelen zu Vorgängen und Figuren im Springer-Verlag seien zu offensichtlich.

Nach den Worten Franzens bezeichnet der Schlüsselroman einen skandalträchtigen Text, der sich als fiktional bezeichnet, aber andeutet, dass es für Geschehnisse und vor allem Figuren reale Vorbilder gibt. „Und diese Figuren lassen sich entschlüsseln, wenn man das richtige Wissen hat.“ Zudem werde der Roman eingesetzt, um Personen des öffentlichen Lebens in ein schlechtes Licht zu rücken. Insofern sei „Noch wach?“ der „klassische Fall eines Schlüsselromans“. Als solcher werde er auch vermarktet.

Figuren und Handlung frei erfunden

Die Beteuerung, dass Figuren und Handlung erfunden sind, habe auch rechtliche Gründe, führte der Wissenschaftler der Universität Siegen aus, der über die Geschichte des Schlüsselromans promoviert hat: „Man nutzt die vordergründige Fiktionalität als Alibi und Schutzschild gegen rechtliche Konsequenzen.“ Bücher wie Klaus Manns „Mephisto“ und Maxim Billers „Esra“ erinnerten an die möglichen Folgen, wenn die Privat- und Intimsphäre von Personen verletzt werde: Beide Romane wurden verboten.

Der Roman „Noch wach?“ war in der vergangenen Woche erschienen. Darin geht es unter anderem um Machtmissbrauch bei einem Fernsehsender, dessen Chefredakteur die berufliche Abhängigkeit junger Mitarbeiterinnen ausnutzt. Das erinnert an den Fall des Ex-Bild-Chefredakteurs Julian Reichelt, der nach Missbrauchsvorwürfen entlassen wurde. Reichelt bestreitet die Vorwürfe. Die Freundschaft des Erzählers mit dem Senderchef lässt wiederum an das langjährige Vertrauensverhältnis von Stuckrad-Barre und Springer-Chef Mathias Döpfner denken.

Rache und Abrechnung?

Laut Franzen trägt auch die Debatte über „Noch wach?“ in Feuilleton und Netz sehr charakteristische Züge: „Stimmt das?“ und „Darf der das?“ seien typische Fragen, die bei allen Schlüsselromanen gestellt würden, obwohl dies literarisch nicht von Relevanz sei. Auf der anderen Seite werde diskutiert, ob die realen Bezüge der literarischen Qualität schadeten. „Beim Schlüsselroman steht immer der Verdacht im Raum, dass es den Autoren mehr um Rache und Abrechnung geht als um ästhetische Meisterschaft.“