Mord im Verkehrsministerium

Als SS-Hauptsturmführer Kurt Gildisch mit seiner 18-köpfigen Todesschwadron am 30. Juni 1934 kurz vor 13 Uhr im Verkehrsministerium in der Berliner Wilhelmstrasse eintrifft, muss er sich nach Erich Klausener durchfragen. Er kennt den Mann nicht, weiß nicht, wie er aussieht und auch nicht, wo er dessen Büro findet. Der Mann am Empfang verweist dienstbeflissen auf den ersten Stock. Gildisch, der von einem Gestapobeamten begleitet wird, untersagt ihm die Anmeldung seines Besuchs. Nur Minuten später fällt in Klauseners Büro ein Schuss.

„Beim Verlassen des Raumes schoss Gildisch Klausener aus einem Meter Entfernung mit seiner privaten Pistole in die rechte hintere Schädelseite“, berichtete Tilman Pünder, ein Neffe Klauseners, 2021 bei einer Veranstaltung der Hamburger Bucerius Law School. „Alsdann griff der Täter zum Telefon und erstattete seinem Auftraggeber Vollzugsmeldung.“ Er habe die Pistole neben Klauseners Arm legen sollen, um dadurch einen Suizid vorzutäuschen.

Klausener leitete seit 1928 die Katholische Aktion in Berlin, deren Ziel es war, die Laienkräfte vor Ort und das breit gefächerte katholische Vereins- und Verbandswesen zu koordinieren. Nach offizieller Darstellung beging er Suizid. Er sei verstrickt gewesen in den behaupteten Aufstand der SA gegen Adolf Hitler zwischen dem 30. Juni und dem 2. Juli 1934, den die Nazis „Röhm-Putsch“ nannten. Doch niemand, der den überzeugten rheinischen Katholiken kannte, glaubte das.

Das Dienstzimmer wurde sofort von der SS abgeriegelt, weder Mitarbeiter des Ministeriums noch Familienangehörige durften hinein. Die Witwe erhielt am 3. Juli die Mitteilung, dass die Leiche ihres Mannes eingeäschert worden war. Auf Druck des NS-Regimes fand auch keine öffentliche Trauerfeier statt. Die Details der brutalen Tat brachte erst der Prozess gegen Kurt Gildisch vor dem Berliner Schwurgericht ab Mai 1951 ans Tageslicht.

Erich Klausener stammte aus einer streng katholischen Familie aus Düsseldorf und stand der katholischen Zentrumspartei nahe. Als Ministerialdirigent hatte der promovierte Jurist von 1926 bis 1933 das Amt des Chefs der preußischen Polizei inne. Kaum waren die Nationalsozialisten an der Macht, wurde der unliebsame Katholik kaltgestellt und ins Reichsverkehrsministerium versetzt.

Zeitgenossen beschrieben den Verwaltungsjuristen als Organisationstalent, ausgestattet mit Wortgewalt und charismatischer Ausstrahlung. Die Nazis hielten den national-konservativen Katholiken, der sich anfangs noch offen zeigte für den Geist des Nationalsozialismus, für gefährlich.

Historiker sehen zwei Gründe für den Mord an ihm. Zum einen nennen sie die lautstarke Opposition des Katholiken gegen die Vereinnahmung der Kirche im NS-Staat. Zugleich war Klausener zum erklärten Gegner der Nationalsozialisten geworden. Als einstiger Leiter der preußischen Polizei hatte er genaue Kenntnis über illegale Machenschaften der Partei und ihre verschlungenen Finanzierungswege. Wohl auch deswegen musste er sterben.

Der Münsteraner Historiker Klaus Große Kracht verweist auf Aussagen des Vize-Chefanklägers Robert Kempner, der bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen Hermann Göring vernahm: Göring habe die volle Verantwortung für die Erschießung Klauseners übernommen. Er habe Klauseners Tätigkeit als Katholikenführer hervorgehoben und erwähnt, dass dieser während der Zeit der Weimarer Republik in der Polizeiabteilung gegen die Nationalsozialisten „gewütet“ habe.

Beim 32. Märkischen Katholikentag auf der Pferderennbahn Hoppegarten im Osten Berlins sprach Klausener sechs Tage vor seiner Ermordung vor 60.000 Gläubigen. Er beendete seine frei gehaltene und nicht überlieferte Rede mit deutlicher Kritik an der NSDAP: Nach Angaben des „Katholischen Kirchenblatts für das Bistum Berlin“ sagte Klausener, eine Unterordnung der Kirche innerhalb des NS-Systems komme nicht infrage. Er habe auf eine unantastbare religiöse Sphäre gepocht. Der Historiker Bernhard Sauer ist überzeugt: „Es besteht kein Zweifel, dass diese Rede mit ausschlaggebend war für seine spätere Ermordung.“

Der Mord blieb zunächst ungesühnt, denn in der NS-Zeit hatte Gildisch wegen eilig erlassener Amnestiegesetze nichts zu befürchten. Doch wurde er 1949 wurde in Berlin von einem Bekannten wiedererkannt, vor dem er sich 1934 des Mordes an Klausener gebrüstet hatte. Der Mann erstattete Anzeige, und so wurde Gildisch angeklagt und am 18. Mai 1953 zu einer Zuchthausstrafe von 15 Jahren verurteilt. Seine Revision scheiterte. Am 5. März 1956 starb der Täter im Alter von 52 Jahren.