„Mit den Augen spazierengehen“

Gudrun Klusmann will es ganz genau sehen. Mit einem kurzen Griff schnappt sie sich eines der in der Kirche bereitliegenden Ferngläser und betrachtet damit Details des 13 Meter hohen „Reformationsfensters“ in der Backsteinwand gegenüber. Die weiße Figur ganz unten etwa. Das rätselhafte Gerippe. Und die blauen, roten und gelben Symbole ganz oben.

Ende Oktober, am Reformationstag, wurde das Kunstwerk von Markus Lüpertz, langjähriger Rektors der Düsseldorfer Kunstakademie (1988-2009), in der evangelischen Marktkirche in Hannover eingeweiht – nach heftigen Kontroversen und Rechtsstreitigkeiten. Angeregt hatte das Fenster vor sieben Jahren Altbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). Tag für Tag lockt das Fenster nun zahlreiche Besucherinnen und Besucher an. „Ich bin extra hierhergekommen, um es mir anzuschauen“, sagt auch Klusmann.

Marktkirchenpastor Marc Blessing spricht von einem Publikumsmagneten: „Wir erleben eine große Steigerung der Besucherzahlen, und zwar aus ganz Deutschland.“ Nach seinen Angaben kommen derzeit pro Woche mehr als tausend Menschen, um das Kunstwerk zu sehen: Passanten, Neugierige, Touristen und Kunstfreunde. „Wir merken, dass mit dem Fenster eine neue Energie in die Kirche gekommen ist.“ Die Reaktionen fielen allerdings unterschiedlich aus: Es werde viel Zuspruch geäußert, aber auch Ablehnung.

Auch Klusmann sieht das Fenster mit gemischten Gefühlen. „Die obere Hälfte finde ich schön, da kann ich gut mit den Augen spazieren gehen“, sagt sie. „Aber der untere Teil ist für mich irritierend.“ Ein seltsames Gerippe sei halt Kunst, „da muss man sich eben mit auseinandersetzen“. Anderen Besuchern geht es ähnlich. Viele stehen lange vor dem Fenster in der Südfassade der spätgotischen Kirche, recken die Hälse in die Höhe, lassen die Blicke schweifen und deuten mit dem Finger nach oben. Andere sitzen versunken auf einer Bank und rätseln, was wohl dieses Tintenfass oder jener Frauenkopf zu bedeuten hat.

Ins Auge fällt zunächst eine große weiße Figur, die den Reformator Martin Luther (1483-1546) darstellen soll, die aber auch als Christus gedeutet wird. Beschwörend reißt sie die Hände in die Höhe, als sei sie zutiefst erschrocken. Das Gerippe in ihrem Nacken leuchtet bei Sonnenschein in gleißendem Orange. Durchs Bild krabbeln zudem fünf fette blau-schwarze Fliegen, die das Böse und die Vergänglichkeit symbolisieren sollen.

Pastor Blessing hat längst seine eigene Interpretation des Fensters: Es sei eine Auseinandersetzung mit dem Tod. „Es möchte die Todesmächte vertreiben.“ Das Positive erschließe sich nicht auf den ersten Blick: „Um das Schöne zu finden, muss man schon genau hinschauen – hinter das Böse.“ Beim Publikum führt das zu unterschiedlichen Reaktionen. Von „großartig“ bis „abstoßend“ reichen sie bei den Menschen, die an diesem Tag durch die Kirche schlendern. „Sehr gewöhnungsbedürftig“ hat jemand ins Gästebuch geschrieben. „Aber wo und wann ist Kunst das nicht?“

Auf den Zetteln an einer Pinnwand sind die positiven Reaktionen leicht in der Überzahl. „Richtig gut!“, heißt es dort. „Bereichert die Kirche.“ Oder: „Das Fenster regt zum Nachdenken an.“ Die negativen Reaktionen klingen dagegen gepfefferter: „Das Fenster finde ich hässlich“, schreibt jemand. Die Kirche solle Trost spenden und nicht das Böse zeigen. Es sei „schade um das rausgeschmissene Geld für dieses fürchterliche Fenster“.

Rund 208.000 Euro kostete das Kunstwerk gekostet. Altkanzler Schröder, ein Freund von Lüpertz, wollte es ursprünglich der Kirche schenken. Dafür hatte er Spenden gesammelt. Doch als der russische Angriffskrieg in der Ukraine begann, widmete die Marktkirche die Spenden wegen Schröders Nähe zum russischen Präsidenten Wladimir Putin um und steckte sie in einen Ukraine-Fonds. Das Fenster muss sie nun selbst bezahlen – doch schon sind neue Spender gefunden.

Schon früh regte sich Widerspruch gegen die ungewöhnliche Bildsprache des Künstlers. Die Marktkirche hielt dennoch an ihrer Absicht fest, das Kunstwerk zu installieren. Daran konnte auch ein zweijähriger Rechtsstreit nichts ändern. „Das Fenster ist nicht lieblich“, räumt Blessing ein. „Aber es ist auf jeden Fall eine Kunst, die einen nicht gleichgültig lässt.“