Missbrauchsbetroffene: Kirche muss jetzt deutliche Zeichen setzen

Ein vor gut zwei Wochen vorgestelltes Gutachten wirft der hannoverschen Landeskirche schwere Versäumnisse bei der Aufklärung von Missbrauchsfällen aus den 1970er-Jahren in der evangelischen Kirchengemeinde Oesede bei Osnabrück vor. Am Freitag (15. März) will der hannoversche Landesbischof Ralf Meister bei einer Pressekonferenz erstmals dazu Stellung beziehen. Eine Betroffene, die unter dem Pseudonym Lisa Meyer auftritt, hat über Jahre für eine Aufarbeitung gekämpft und damit maßgeblich zum Zustandekommen des Gutachtens beigetragen. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) fordert sie mehr Tempo, Transparenz und Unabhängigkeit bei der Aufarbeitung – und legt dem Bischof einen Rücktritt nahe.

epd: Frau Meyer, wie beurteilen Sie den Bericht der Aufarbeitungskommission zu Fällen sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirchengemeinde Oesede?

Lisa Meyer: Ich halte die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in Form solcher Studien für sehr wichtig. Diese spezielle Studie zu den Fällen in Oesede zeugt aus meiner Sicht von einer sehr akribischen und umfänglichen Vorgehensweise. Ich glaube, die beiden Forschenden haben gute Arbeit geleistet. Dafür bin ich dankbar.

epd: Gibt es Aspekte in der Studie, die Ihnen besonders wichtig sind?

Meyer: Es gibt kaum Aspekte in der Studie, die ich noch nicht kannte. Aber das alles schwarz auf weiß zu lesen, hatte für mich als Betroffene eine ungeheure Wucht. Besonders erschüttert hat mich das klare Urteil der Autoren, die missbrauchten Kinder seien in den 1970er-Jahren wie Objekte behandelt worden. Es ging der Kirche um Vertuschung. Der damalige Pastor hat sogar die Mutter eines betroffenen Kindes aufgefordert, über die Taten nicht öffentlich zu sprechen. Der Grund: Der Beschuldigte sollte noch eine Jugendfreizeit begleiten. Emotional tief getroffen hat mich die klare Erkenntnis, dass spätere Taten an weiteren Betroffenen verhindert worden wären, wenn in meinem Fall richtig gehandelt worden wäre.

epd: Wie lautet Ihr Urteil über das in der Studie beschriebene Verhalten der Landeskirche?

Meyer: Geradezu skandalös finde ich, dass noch 2021 im Landeskirchenamt keine verbindlichen Handreichungen, keine verlässlichen Strukturen und kein Konzept für die Begleitung eines Aufarbeitungsprozesses in den Kirchengemeinden existierten. Die Mitglieder meiner Begleitgruppe in Oesede – eine Pastorin, ein Pastor und der Superintendent – wurden damit komplett alleingelassen. Die Landeskirche hatte sich meinem Eindruck nach immer damit gebrüstet, sie sei in puncto Aufarbeitung ganz vorn mit dabei. Gemessen an dem Image, das sie sich selbst gegeben hat, klafft da eine Riesenlücke.

Ich habe die Begleitgruppe als engagiert und offen erlebt. Aber ich habe auch deren Hilflosigkeit und Überforderung gespürt. Teilweise habe ich ihnen als Betroffene mit meiner beruflichen Erfahrung in Organisationsprozessen sagen müssen, welche Schritte sinnvoll sind. Mein Fall war ja nicht der erste, der in der Landeskirche aufgearbeitet wurde. Die Kirche hätte schon damals ein Verfahren haben müssen, auf das alle in den Gemeinden vor Ort zurückgreifen und auf das sie sich verlassen können. Die begleitenden Personen hätten zudem Unterstützung und Supervision bekommen müssen.

epd: Welche Lehren sollte die hannoversche Landeskirche aus der Studie ziehen?

Meyer: Meine Forderung ist, dass die Erkenntnisse aus der Studie sofort umgesetzt werden. Es müssen jetzt klare Standards entwickelt werden, wie Aufarbeitungsprozesse vor Ort gestaltet werden sollen. Daran müssen zwingend Betroffene und die Kirchengemeinden beteiligt werden. Alle Beteiligten müssen das Angebot einer Supervision erhalten. Zudem muss nach jedem Aufarbeitungsprozess eine Evaluation stattfinden: Was war gut, was müssen wir verändern?

epd: Müsste es ein unabhängiges Gremium geben, das die Kontrolle über die Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt in der Landeskirche hat?

Meyer: Ja. Ein solches Gremium müsste dafür sorgen, dass Standards und Richtlinien für alle Betroffenen gleichermaßen angewandt und eingehalten werden. Und es müsste zudem die Funktion einer Ombudsstelle für Betroffene übernehmen, an die diese sich mit einem Beratungs- oder Beschwerdeanliegen vertraulich wenden können.

epd: Landesbischof Meister hat sich während der Pressekonferenz zur Präsentation der Studie bei Ihnen bedankt. Sie haben diesen Dank als „zynisch“ bezeichnet. Warum?

Meyer: Der Dank erweckt bei mir den Eindruck, als hätte ich die Landeskirche auf etwas hingewiesen, das sie nicht wusste. Das ist aber nicht so. Deshalb ist der Dank nichts weiter als ein Lippenbekenntnis. Die Landeskirche hat im Gegenteil sowohl 2010 als auch 2021 einiges getan, um meinen Fall unter der Decke zu halten. Das hat die Studie deutlich zutage gefördert. Mir dann dafür zu danken, dass ich gegen all diese Widerstände weitergekämpft habe, das wirkt für mich nicht glaubhaft.

epd: Was wäre für Sie glaubhaft?

Meyer: Der Blick muss endlich weggehen vom Schutz der Institution und hin zu den Betroffenen. Wenn sich das an der Spitze der Kirche nicht ändert, wird sich auch nach unten hin nicht viel ändern. Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf her. Bisher hat Bischof Meister aber noch nicht einmal persönlich das Gespräch mit mir gesucht. Das hätte ich erwartet. Genauso wie ich erwartet hätte, dass er bei mir um Entschuldigung bittet.

Ich würde einen Rücktritt von Bischof Meister für wichtig und richtig halten. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in Oesede hat nachweislich schwere Versäumnisse, Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen, Verschleppung und Vertuschung sowie defizitäre Arbeitsbedingungen und Unprofessionalität in der Ansprechstelle für Opfer sexualisierter Gewalt dokumentiert. Dies alles geht auch auf das Konto des seit 2011 amtierenden Landesbischofs. Wenn nicht jetzt, wann dann sollten personelle Konsequenzen folgen? Im Sinne einer konsequenten Verantwortungsübernahme müssen sowohl die Landeskirche als auch der Landesbischof jetzt ein deutliches Zeichen setzen – nicht zuletzt, um für Gerechtigkeit zu sorgen und Glaubwürdigkeit gegenüber den Betroffenen zurückzugewinnen.