Missbrauch im kirchlichen Umfeld: Wo warst du, Gott?

Menschen, die Gewalt im kirchlichen Raum erfahren haben, drehen der Institution oft den Rücken zu. Doch es gibt einen ökumenischen Verein, der die zusammenbringt, die trotzdem glauben wollen.

Wie wäre mein Leben, wenn ich glauben könnte, dass ich wirklich gewünscht bin? Der Missbrauch durch Menschen, denen vertraut wurde, führt bei vielen Betroffenen zu tiefen Verletzungen und Verunsicherungen. Für manche gibt der Glaube Halt und Hilfe bei der Aufarbeitung
Wie wäre mein Leben, wenn ich glauben könnte, dass ich wirklich gewünscht bin? Der Missbrauch durch Menschen, denen vertraut wurde, führt bei vielen Betroffenen zu tiefen Verletzungen und Verunsicherungen. Für manche gibt der Glaube Halt und Hilfe bei der AufarbeitungPhotographee.eu

Dass Menschen mit Missbrauchs­erfahrung überhaupt noch nach dem christlichen Glauben fragen, ist für manche Menschen, auch für Christinnen und Christen, befremdend. Wie können solche Menschen denn noch an Gott glauben? Haben sie nach oft jahrelanger sexueller Gewalt nicht jegliche Hoffnung verloren?

Nicht wenige, die in ihrer Familie, im Nahbereich, in Institutionen, auch in den Kirchen Missbrauch erlebt haben, haben sich mit guten Gründen vom Glauben abgewandt und erwarten von der Kirche nichts, aber auch gar nichts mehr. Sie suchen an anderen Orten nach Sinn und nach der Solidarität ihrer Mitmenschen.

Die Frage nach dem Halt im Glauben

Aber es gibt auch die, die nach dem Halt fragen, der im christlichen Glauben liegen könnte. So schreibt etwa eine Frau an die Initiative „GottesSuche“: „Ohne meinen Glauben hätte ich die Jahre des sexuellen Missbrauchs nicht überlebt. Die Hoffnung, dass Gott auch für mich da ist, hat mir beim Überleben geholfen. Aber mir fehlen Menschen, die meine Suche nach einem gelingenden Leben und nach Gott begleiten.“

Solche Betroffene suchen Menschen, die wissen, wovon sie sprechen, wenn sie von Missbrauch in Kindheit, Jugend oder im Erwachsenenleben erzählen und die Folgen benennen, die diese Gewalt­erfahrungen in ihrem Leben hinterlassen haben. Sie möchten eine „Annäherung an Gott“ und sind dankbar, wenn andere Menschen ihre Fragen, Zweifel, ihre Hoffnungslosigkeiten aushalten und Hoffnungen – trotz allem – teilen. Eine Frau stellt diese Fragen: „Wie wäre mein Leben, wenn ich daran glaube, dass es einen Platz für mich gibt, dass ich wirklich gewünscht bin? Wie wäre es, wenn ich daran glaube, dass ich geliebt und geachtet bin?“

Auch Jesus hat Gewalt durch Menschen erfahren

Beide zitierten Frauen wollen der Gewalt nicht das letzte Wort lassen. Sie wollen trotz aller Schwierigkeiten, trotz allem in der Gewalt gebrochenem Vertrauen den Glauben, dass auch sie ein „erfülltes Leben“ haben können, nicht aufgeben. Sie suchen tragfähigen Halt bei einem Gott, der in Jesus selbst Gewalt durch Menschen erfahren hat.

In der Initiative „GottesSuche“ finden sie das Verständnis anderer Betroffener für ihre Suche nach einem tragfähigen Glauben, der sie nicht mit billiger Vertröstung und falschen Heilungsversprechen abspeist.

Am Anfang der Initiative stand die Ungewissheit, ob es möglich sein kann, in einem Raum des Vertrauens sowohl über Gewalterfahrung, die im innersten Zentrum eines Körpers und einer Seele erlitten wurde, als auch über die tiefsten spirituellen Hoffnungen und Sehnsüchte miteinander zu sprechen.

Initiative „GottesSuche“: Betroffene suchen den Austausch

So entwickelte sich entlang der Bedürfnisse und Erfahrungen Betroffener eine Mailingliste, also ein Austauschforum per E-Mail, in dem Alltag und Hoffnungen geteilt werden können. „GottesSuche“ wurde zu einem Raum, in dem sich Betroffene miteinander vernetzen und sich in aller Unterschiedlichkeit wechselseitig stärken.

Die Frauen, die sich auf „GottesSuche“ treffen, kommen aus allen Altersgruppen und Berufen. Sie sind evangelisch, katholisch oder freikirchlich verortet oder gehören keiner Glaubensgemeinschaft (mehr) an, sie sind ledig, verheiratet, geschieden, Singles, Mütter, in Orden lebend. Sie haben unterschiedliche sexuelle Orientierungen und sind haupt- und ehrenamtlich in der Kirche aktiv, berufstätig oder aufgrund der Gewaltfolgen frühverrentet.

Die Gewalt haben sie in ihren Familien, im Nahbereich, in außerkirchlichen Institutionen, aber auch in den Kirchen erlitten. Das Leitungsteam von „GottesSuche“ begleitet die Vernetzung und den Austausch von Betroffenen und verantwortet das wöchentliche Bibelgespräch per Zoom. Einmal jährlich findet ein Wochenende zu einem biblischen Thema statt.

Wo waren die Menschen, die damals hätten helfen können?

Betroffene beklagen, dass Gott als „Herr“ oder „Vater“ genannt wird – waren sie doch mit Herren oder Vätern bei ihrer Gewalterfahrung konfrontiert. Sie verstehen nicht, dass sie vergeben sollen, obwohl Täter sich chronisch unschuldig geben. Auch klagen sie, dass sie – oft ganz allein – um Gerechtigkeit kämpfen müssen. Und dass „Solidarität“ ein Wort ist, das so oft nicht von Taten gedeckt ist.

Sie fragen daher: Wo warst du, Gott, als die Gewalt geschah? Wo waren die Menschen, die damals hätten helfen können? Wo sind die Menschen heute, die helfen könnten, das Leben mit den Traumafolgen zu bestehen? Wo sind die Christinnen und Christen, zu denen ich gehören kann, ohne meine Lebensgeschichte verschweigen zu müssen, aber auch, ohne mich outen zu müssen?

Gemeinden sollten zeigen, dass sie ein offenes Ohr für Betroffene haben

Betroffene sind immer schon mitten unter uns in unserem Freundes- und Bekanntenkreis ebenso wie in unseren Kirchengemeinden. In einem durchschnittlich großen Bekanntenkreis sind unter 50 Frauen und 50 Männern fünf Jungen und neun Mädchen, die zwischen 0 und 14 Jahren Kindesmissbrauch erlebt haben. Hinzu kommen zwölf Frauen, die als Erwachsene körperliche und sexuelle Gewalt erlebt haben. Nicht erwähnt sind männliche Betroffene ab 14 Jahre, weil es über sie bislang keine Studie gibt. Jeder und jeder von uns hat längst mit Betroffenen zu tun, ohne es in der Regel zu wissen.

Eine Betroffene formulierte ihre Wünsche einmal so: „Kirchengemeinden sollten sich darüber klar werden, dass in jeder ihrer Begegnungen Missbrauchsopfer anwesend sind. Sie sollten sich über das Leben Traumatisierter informieren und sich bemühen, Verständnis dafür aufzubringen. Sie sollten sich nicht auf die Seite von Tätern schlagen durch Gleichgültigkeit, Vorurteile über Opfer, Schuldzuweisungen an Opfer. Sie sollten in ihren Angeboten – angefangen beim Gottesdienst – zu erkennen geben, dass die Gemeinde ein offenes Ohr und Herz für Missbrauchsopfer hat.

Gemeinden sollten sich zu Zeugen für Erlittenes machen lassen, also nicht nur an Jesu Kreuzestod denken, sondern auch an die Menschen, die hierzulande zu Opfern werden.“ Für Betroffene von sexueller Gewalt und Machtmissbrauch kann Hoffnung gestärkt werden, wenn sie erfahren, dass Mitchristinnen und Christen und Gemeinden ihnen entgegenkommen.

Erika Kerstner ist Initiatorin von „GottesSuche. Glaube nach Gewalterfahrungen. Ökumenische Arbeits- und Selbsthilfegruppe“.