„Mensch gewordene Kunst“

Autoren widmeten ihr Stücke, Kritiker lagen der italienischen Schauspielerin Eleonora Duse (1858-1924) zu Füßen. Nur ihre große Rivalin Sarah Bernhardt fand spitze Worte: „Sie ist eine große, sehr große Schauspielerin, aber sie ist keine große Künstlerin.“ Der Berliner Theaterkritiker Alfred Kerr widersprach: „Dickhäuter ahnen nie, dass diese Frau … nicht eine Künstlerin ist, sondern Mensch gewordene Kunst.“

Es war die Zeit der ersten „Stars“ des Theaters, und Eleonora Duse war einer der größten. Das „Handbuch der Bühnenposen“ ignorierte sie. Wilde Gesten, grelle Schminke, hohe Intonation, Masken und Requisiten – dagegen setzte die Duse ihr ausdrucksstarkes Gesicht und ihre nach innen zurückgenommene Darstellungskraft. Die Schauspielerin, gestorben vor 100 Jahren am 21. April 1924, setzte auf natürlichen Ausdruck.

Damit brachte sie auch Dichter wie Hugo von Hofmannsthal zum Schwärmen: „ihr Gehen und Stehen, Hoheit ihres Lachens, die Magie ihrer Hände, die wundervolle tragische Maske, gewoben aus Strahlen und Dunklem, die ihre Seele verhüllt und verrät“. Duses Landsmann, Bühnenautor Luigi Pirandello, erklärte, sie verfüge über das, was die „erste Pflicht eines Schauspielers“ sei: „überlegener Verzicht auf sich selbst.“

Auf sich selbst hat sie aber nur auf der Bühne zugunsten ihrer Figuren verzichtet. Im Leben galt sie als willensstark. Sie setzte sich gegen Koryphäen wie den englischen Bühnenbildner Edward Gordon Craig durch, dessen Bühnenbilder sie ohne vorherige Absprache änderte. Nur einer war stärker: ihr Geliebter Gabriele D’Annunzio, der sich später dem faschistischen Diktator Benito Mussolini andiente. Er betrog sie und stellte sie in seinem Stück „Das Feuer“ als alternde Diva bloß.

Willensstärke brauchte Eleonora Duse. Sie hat sich als Spross einer fahrenden Komödiantenfamilie zu den großen Bühnen hochgearbeitet. Am 3. Oktober 1858 in Vigevano in der Lombardei geboren, stand Eleonora schon mit vier Jahren auf einer Wanderbühne, in Kinderrollen wie der Cosette aus Victor Hugos Roman „Die Elenden“. Mit 15 spielte sie Shakespeares Julia in der Arena di Verona.

In Neapel feierte sie Erfolge mit Shakespeares Desdemona in „Othello“ und als Ophelia in „Hamlet“. 1880 schloss sie sich der Truppe von Cesare Rossi an, doch als sie mit der Bernhardt in der Rolle der Kameliendame nach dem Roman von Alexandre Dumas konkurrieren wollte, lehnte Rossi ab. Sie setzte sich dennoch durch. Ihrem ersten Auftritt 1883 in Turin folgten noch viele Kameliendamen. 1891 brillierte Duse auch als Henrik Ibsens Nora und als Goldonis Mirandolina. „Die Göttliche“ wurde sie mittlerweile genannt.

Ihren internationalen Durchbruch erlebte sie im Winter 1891/92 in St. Petersburg. Dort saß der Schauspieler Josef Kainz im Publikum, der sie ans Berliner Lessing-Theater holte. Auch im Wiener Carl-Theater trat sie als Kameliendame auf. „Am ersten Abend spielte sie vor leerem Hause, den nächsten Tag war sie weltberühmt“, schrieb der österreichische Theaterwissenschaftler Heinz Kindermann.

Inzwischen hatte die Duse, wie die Bernhardt, ihre eigene Truppe gegründet, mit ihrem Kollegen Flavio Ando, den sie auf ihrer ersten Tournee 1885 in Südamerika kennengelernt hatte. Für ihn verließ sie ihren Ehemann „Checci“ , den Vater ihrer Tochter Enricetta. Ein Freund und Geliebter von Dauer war außerdem Guiseppe Verdis Librettist Arrigo Boito, ihr „Heiliger, den sie nicht heiraten konnte“.

Aber dann kam D’Annunzio und mit ihm der Liebesrausch. Nur seine Stücke spielte sie fortan – bis zur Ernüchterung und dem Betrug. Die Schauspielerin verfiel in Depressionen. Immerhin widmete der Untreue ihr seine Liebestragödien „La Gioconda“ und „Francesca da Rimini“.

Ibsens Dramen, etwa „Rosmersholm“, wurden ihr zur Fluchtburg. Nach ihrer Welttournee 1908/09 zog sie sich auf dem Gipfel ihres Ruhms zurück. Sie war lungenkrank, wie ihre Mutter, die an Tuberkulose gestorben war. Beim beginnenden Stummfilm Fuß zu fassen, gelang ihr nicht. Mit Ibsens Stück „Die Frau vom Meer“ kehrte sie aus finanzieller Not 1921 auf die Bühne zurück. Auf ihrer letzten Amerika-Tournee brach sie nach einem Auftritt in Pittsburgh/Pennsylvania zusammen und starb am 21. April 1924 in einem Hotel.

Per Schiff wurde ihr Leichnam nach Italien überführt und auf dem Friedhof von Asolo/Venetien beerdigt wo sie ihren Landsitz hatte. Tausende säumten den Trauerzug. In Erinnerung bleibt sie als Wegbereiterin des modernen realistischen Theaters, das allein der verinnerlichten Rolle und dem Körperausdruck vertraut.