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Mein Erbstück

Eine Pfarrerin erzählt von einem Geschenk, das auch ein Auftrag ist

Manchmal gibt es Dinge, die in einer Familie bleiben – über Generationen hinweg. Bei unserer Leserin Claudia Falkenreck-Wünsche ist es ein Abendmahlsgeschirr. Es war ihr Großonkel, der westfälische Pfarrer Werner Scheck, der es nach dem Zweiten Weltkrieg anfertigen ließ – als Erinnerung an die Schrecken des Krieges und als Mahnung für die Zukunft. Die Geschichte dieses Abendmahlsgeschirrs hat die in Münster geborene Falkenreck-Wünsche, heute Pfarrerin in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig, aufgeschrieben.

Mein Großonkel Werner war zur Zeit des Nationalsozialismus Pfarrer im Widerstand und gehörte damit zu demjenigen Teil der Kirche, der sich gegen die NS-Diktatur einsetzte. Wie jeder wehrpflichtige Mann aber wurde auch Onkel Werner zum Kriegsdienst einberufen. Zu verweigern, hätte für ihn Gefängnis bedeutet und früher oder später wohl den Tod.

Man hatte ihm noch angeboten, Wehrmachtspfarrer zu werden. Dann aber hätte er Waffen segnen und Soldaten mit dem Segen Gottes in den Krieg schicken müssen – das konnte und wollte er auf keinen Fall.

So wurde er selbst Soldat, kämpfte unter anderem in Stalingrad in der Sechsten Armee. Dass er diesen Einsatz überlebt hat, mögen manche Zufall nennen. Für ihn war es sicher göttliche Fügung. In Frankreich musste er weiter kämpfen und war später in amerikanischer Gefangenschaft.

Doch auch als Soldat blieb Onkel Werner Pfarrer. Mir wurde erzählt, dass er an der Front und während der Gefangenschaft seinen Kameraden das Wort Gottes predigte, mit ihnen betete und das Abendmahl feierte.

So blieben seinen Kameraden neben den grausamen und bitteren Erfahrungen des Krieges auch diese Momente der gemeinsamen Gebete und Abendmahlsfeiern in Erinnerung. Sie wurden dadurch gestärkt für ein Leben in Hoffnung und Frieden.
Nach dem Ende des Krieges haben einige seiner Kriegskameraden Gold und Silber zusammengelegt, Familienschmuck und -besteck, aus dem Onkel Werner ein Geschirr für Hausabendmahle anfertigen lassen sollte. Damit sollte er weiterhin den Menschen die Botschaft des lebendigen Gottes verkünden.

Meine Großtante und ihre Kinder haben dieses Abendmahlsgeschirr an mich weitergegeben und damit habe ich auch ein Stück Geschichte geerbt: einen Ausschnitt der grausamen und brutalen deutschen Kriegsgeschichte,  und auch ein Stück der heilvollen und hoffnungsvollen Geschichte, die Menschen mitten im Krieg miteinander, mit ihrem Glauben, mit Gott erlebt und erlitten haben.

Und so ist mir dieses Abendmahlsgeschirr – und vor allem die Geschehnisse dahinter und Erzählungen dazu – Geschenk und Auftrag, Zuspruch und Anspruch zugleich. Zuspruch, dass Gott uns immer wieder stärkt.

Er macht uns Mut, dass es sich lohnt, auf Hoffnung und Frieden hin zu leben. Anspruch, mich meiner Verantwortung zu erinnern. Verantwortung – nicht ausschließlich für das, was gewesen ist, sondern vor allem für die Gegenwart und die Zukunft. Denn „Krieg soll nach Gottes Willen nicht (und nie wieder) sein“ – so hat auch Onkel Werner die klare Botschaft der ersten Vollversammlung des Weltkirchenrates in Amsterdam 1948 aufgenommen und weitergetragen.

In dieser klaren, zuversichtlichen Verantwortung und in Erinnerung an Onkel Werner und an Gottes rettende Liebe feiere ich heute als Pfarrerin mit diesem besonderen Erbstück gerne Abendmahl.