Mehr als ein Herabbeugen

Über Barmherzigkeit schreibt Pastor Tilman Baier. Er ist Chefredakteur der Evangelischen Zeitung und der Mecklenburgischen & Pommerschen Kirchenzeitung.

Rolf Zöllner / epd

Der Predigttext des kommenden Sonntags lautet: „Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber …“ aus Lukas 10, 25-37

Eigentlich konnte nichts schief gehen in dieser Christenlehrestunde. Die Geschichte, die ich erzählen wollte, war spannend: Da wird einer überfallen, zusammengeschlagen und ausgeraubt. Ob ihm jemand zu Hilfe kommt? „Ich weiß, ich weiß“, wurde ich von einem der Kinder unterbrochen, „jetzt kommt der Sama-Reiter“. Ein bisschen aus der Fassung gebracht, erzählte ich noch rasch, dass bereits vorher zwei Männer vorbeigekommen waren, ihn aber liegen ließen. Warum der dritte ihm geholfen hatte? „Weil er barmherzig war“, kam sofort als Antwort, wie selbstverständlich. Hmm.

Ja, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das Jesus auf die Frage erzählt, wie wir ewiges Leben gewinnen können, ist weithin bekannt. Doch obwohl seine Botschaft klar und einfach klingt – es zeigt auch, dass Barmherzigkeit oft mehr fordert als ein Herabbeugen zu Hilfsbedürftigen. Sie kann nämlich mit als ehern geltenden Maximen gewaltig kollidieren: Nein, es sind nicht Egoismus oder Ignoranz, dass der Priester und der Levit dem Verletzten nicht helfen.

Heilige Gesetze

Als Mitarbeiter im Tempel dürfen sie nach den heiligen Gesetzen nicht mit Verletzten, Kranken oder gar Toten in Berührung kommen, weil sie dadurch unrein würden. Doch von ihrem Dienst für Gott hängt das Wohl und Wehe des ganzen Volkes ab. Vielleicht haben sie Mitleid mit dem Überfallenen. Aber für die große Sache müssen eben Kollateralschäden in Kauf genommen werden, heißt es bis heute nicht selten in Religion, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft.

Dass nun ausgerechnet ein Samariter hilft, ein Außenseiter, der als nicht koscher gilt, weil er nicht den richtigen Glauben hat und etliche der heiligen Gesetze nicht befolgt, ist eine ungeheure Provokation. Denn Jesus sagt damit: Er, der scheinbar Gesetzlose, erfüllt als einziger das Grundgesetz, das Gott den Menschen gegeben hat. Und dieses Gebot der Nächstenliebe hat die Autorität, alle anderen Gesetze zu relativieren oder gar zu brechen, ja, es ist der wahre Gottesdienst. Und Jesus endet: „So geh hin und tu desgleichen.“

Unser Autor
Tilman Baier ist Pastor und Chefredakteur der Evangelischen Zeitung und der Mecklenburgischen&Pommerschen Kirchenzeitung.

Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Dienstag.