Arte: Marija pflegt Curt in „Die Vergesslichkeit der Eichhörnchen“

Ein Film mit aktuellem Thema: Tragikomödie um eine ukrainische Pflegekraft, die in einer deutschen Familie mit einem emotionalen Minenfeld konfrontiert wird.

Curt (Günther Maria Halmer) mit Marija (Emilia Schüle)
Curt (Günther Maria Halmer) mit Marija (Emilia Schüle)SWR/ Zieglerfilm/ Ivan Maly

Marija (Emilia Schüle) ist eine junge Frau aus der Ukraine, die sich nach ihrem Germanistikstudium aus finanzieller Not auf einen Job als 24-Stunden-Pflegekraft in einer Familie eingelassen hat, in der die erwachsenen Kinder ein äußerst angespanntes Verhältnis zum dementen Patriarchen Curt (Günther Maria Halmer) haben. Sie gerät prompt in ein wahres Minenfeld vergifteter Verhältnisse, schafft es mit Sensibilität aber, eine allmähliche Veränderung zu bewirken. Die Tragikomödie von Nadine Heinze und Marc Dietschreit greift mit subversiver Kraft das Reizthema des deutschen Pflegenotstands und der Arbeitsbedingungen ausländischer Pflegekräfte auf. Der Tonfall changiert dabei von bedrückend leise zu humorvoll skurril, während treffsichere Dialoge und Gesten das soziale Spannungsfeld eindrücklich ausloten.

Ende Juni 2021 schlug ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts hohe Wellen, das 24-Stunden-Pflegekräften aus dem Ausland einen Anspruch auf den Mindestlohn zuspricht. Eine Entscheidung, deren Folgen für die Organisation der Pflege in Deutschland weitreichende Folgen haben dürfte. Denn die häusliche Betreuung kranker und alter Menschen funktioniert hierzulande doch seit Langem nicht zuletzt mit Hilfe von Hunderttausenden ausländischen Pflegerinnen, oft aus Osteuropa, die bei ihren Arbeitgebern einziehen und rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Eine Steilvorlage für den Film von Nadine Heinze und Marc Dietschreit, der solch eine Pflegekraft, ihre Arbeitsbedingungen sowie die wechselseitigen Abhängigkeiten von Pflegerin und Gastfamilie ins Zentrum stellt.

Aus Geldnot nimmt Marija Job an als 24-Stunden-Pflegekraft

Marija darf keinen Besuch empfangen, nicht rauchen und nicht ihren fünfjährigen Sohn samt Mutter in der Ukraine anrufen, soll stets einen weißen Kittel tragen und niemals die Luxusvilla verlassen: Die ihrer Intimität beraubte Marija hat sich nach einem Studium der Germanistik aus ökonomischer Not auf einen Job als 24-Stunden-Pflegekraft eingelassen. Die verbitterte und kontrollsüchtige Tochter des dementen Curt musste nach dem frühen Tod der Mutter deren Platz einnehmen.

Marija (Emilia Schüle) gelingt es, einen Zugang zu Curt (Günther Maria Halmer) zu bekommen
Marija (Emilia Schüle) gelingt es, einen Zugang zu Curt (Günther Maria Halmer) zu bekommenSWR/ Zieglerfilm/ Ivan Maly

Ihr jüngerer Bruder hasst seinen Vater, weil dieser über Jahrzehnte wegen seiner Arbeitswut die Familie vernachlässigte und zugleich bedingungslosen Gehorsam erwartete. Das hindert den selbstzentrierten Porsche-Fahrer nicht daran, seine Existenz ebenfalls der Profitmaximierung unterzuordnen und Marija wie ein Objekt zu behandeln – so treffen finanzielle und emotionale Defizite von Menschen aufeinander, die nicht ungleicher sein könnten.

Marija pflegt ihren launisch-hellsichtigen Patienten

Marija, die Emilia Schüle mit einer ganzen Bandbreite erschütternder Sensibilität spielt, hat mit ihren 27 Jahren bereits die Erfahrung des Krieges und der Verantwortung für andere verinnerlicht und erkennt sogleich mit viel Sinn für Empathie den Berg an zugeschütteten Konflikten, die ihre dysfunktionale „Gastfamilie“ zerreißen. Sie kann ihr Innenleben erst gar nicht hinter einer Maske verstecken. Ihre quälende Situation steht ihr ins Gesicht geschrieben, weswegen sie zunächst auch eine leichte Beute der Selbstsucht der anderen wird.

Als Curt in ihr seine jung verstorbene Frau wiederzuerkennen glaubt, dafür aber seine Tochter wie eine Fremde behandelt, desertiert diese wutentbrannt aus ihrem familiären Gefängnis und verursacht unter Schmerzmitteln einen schweren Autounfall. Von nun an pflegt Marija ihren launisch-hellsichtigen Patienten nach eigenen Vorstellungen, ohne Zwang und grundlos verordnete Bettruhe.

Zwischen Hoffnung und dem Ekel vor den seelischen Übergriffen ihrer Arbeitgeber

Curt blüht nach Ausflügen und improvisierten Ferien am heimischen Swimmingpool auf. Er glaubt sich wieder zurück in einer harmonischen Vergangenheit der knallbunten Siebziger und holt all die Komplimente nach, die er einst seiner depressiven Frau vorenthalten hatte. Die Wunden könnten beinahe geschlossen werden, wäre da nicht der krankhaft eifersüchtige Filius, der die Abhängigkeit Marijas als Druckmittel einsetzt, um sie ganz für sich zu bekommen.

Hin und her gerissen zwischen Hoffnung auf eine längere Einstellung und dem Ekel vor den seelischen Übergriffen ihrer Arbeitgeber, verlässt sie schließlich ihre beobachtende Position und verwandelt sich in eine gnadenlose Konfrontationstherapeutin, die eine tief verdrängte Familientragödie an die Oberfläche holt.

Von bedrückend leise zu humorvoll skurril und wieder zurück

Eine erstaunlich subversive Kraft geht von dieser Tragikomödie aus; der Ton wechselt von bedrückend leise zu humorvoll skurril und wieder zurück, die treffsicheren Dialoge und die Gesten des großartigen Ensembles sitzen fest im ins letzte Detail durchdachten Inszenierungssattel, als hätte man es bereits mit altgedienten Profis zu tun, die ihre Figuren an den Rand der über Jahrzehnte sorgsam vermiedenen Selbsterkenntnis führen. Das soziale Spannungsfeld zwischen migrantischer Ausbeutung und bundesrepublikanischem Gefühlsdesaster fängt dieser kleine, wahrhaftige Film zwar ohne gewaltsame Katharsis, aber dafür mit jeder Menge Sehnsucht nach humanerem Miteinander auf.

„Die Vergesslichkeit der Eichhörnchen“: Mittwoch, 28. Februar, 20.15 Uhr, Arte