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Marbacher Ausstellung zur Wechselwirkung von Musik und Literatur

Ob Brahms oder Brod, ob Rilke oder Rio Reiser: Alle verbinden auf ihre Weise Musik und Literatur. Wie die beiden Kunstgattungen zusammenspielen, beleuchtet die neue Ausstellung im Marbacher Literaturarchiv.

Am Kinderbett, bei Länderspielen, auf Parteitagen, Hochzeiten und Beerdigungen: Lieder erklingen in allen möglichen Situationen, beeinflussen oder manipulieren sie sogar. Die Ausstellung “Singen! Lied und Literatur” im Literaturmuseum der Moderne (LiMo) in Marbach will das Zusammenwirken zwischen Musik und gebundener Sprache erschließen. Es geht um “Lieder von der Wiege bis zur Bahre”, sagte Ausstellungsmacherin Gunilla Eschenbach.

Die Schau nimmt das Verhältnis von ästhetischer Struktur und Aufführungssituationen in den Blick. Dazu gruppiert sie zwischen Plexiglaswänden 45 Ausstellungsstücke wie Handschriften und Notendrucke in 5 Abschnitten, die Alltagssituationen und Lebensstationen beschreiben. Den Beginn macht das Thema Geburt mit einem indischem Wiegenlied in der deutschen Übersetzung von Max Brod. “Wiegenlieder sind die einzige musikalische Gattung, die kulturübergreifend ist”, sagt Eschenbach.

Beim Thema Natur sind ein Faksimile der Vertonung von Friedrich Schillers “Der Abend” durch Johannes Brahms von 1874 ausgestellt wie auch eine des Liedes “Wassersnot” aus der Volksliedsammlung “Des Knaben Wunderhorn” der Romantiker Clemens Brentano und Achim von Arnim. Naturlieder seien ambivalent zu betrachten, weil sie eine “künstliche Natursentimentalität” vermittelten, sagt Eschenbach.

Bei der Auswahl der Stücke für die bis 3. Februar laufende Ausstellung konnte die Kuratorin aus dem Vollen schöpfen: Der Musikalienbestand des Deutschen Literaturarchivs (DLA), zu dem das Museum gehört, umfasst etwa 5.100 Notendrucke und 2.800 Notenhandschriften vom späten 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

Lieder bildeten einen Teil der Gründungsgeschichte des Archivs, sagte DLA-Direktorin Sandra Richter. Literatur sei immer eine “Kultur des Singens, Sagens und Hörens”. Viele Lieder der Ausstellung wurden von Sängern der Musikhochschulen Frankfurt, Mannheim und Stuttgart vertont und sind online und an Hörstationen in der Ausstellung verfügbar.

Als Kennzeichen der Literaturform Lied nennt Eschenbach ihre formale Geschlossenheit und ihre Nähe zum Alltag. Lieder griffen in die Realität ein, könnten Handlungen auslösen und Zeit strukturieren, geben ihr eine Form und können helfen, Übergänge zu bestreiten. Da Lieder in eine reale Situation eine zweite Ebene bringen, bezeichnete die Literaturwissenschaftlerin Lieder als “Mini-Utopien”.

Sie finden ihren Niederschlag besonders in der Station Liebe, mit Willy Pragers “Erst hat er zu ihr ‘Sie’ gesagt” von 1925 und der Handschrift der berühmten Vertonung der “Loreley” von Heinrich Heine durch Friedrich Silcher. Dass “Du, der ich’s nicht sage” in Musik gesetzt wurde, hat Rainer Maria Rilke tief verärgert, verrät der Brief an seinen Verleger.

Wie in der Liebe machen auch in der Politik nicht nur der Ton, sondern auch das Wort die Musik. Hier hängen das “Arbeiterlied” von Ernst Toller, neben einem Songentwurf von Rio Reiser, den eine Buntstiftzeichnung mit einem Sonnenuntergang ziert. In der Nachbarschaft findet sich die erste Vertonung von Schillers “An die Freude” aus der Feder von Christian Gottfried Körner.

Bei der letzten Station der Ausstellung, der zum Tod, taucht abermals Max Brod auf – dieses Mal als Komponist des Liedes zu Johann Wolfgang von Goethes “Sankt Nepomuks Vorabend”.

Wer dieses Lied oder ein anderes selbst einsingen will, kann das in einer Song-Tool-Box machen, einem schwarzen Pavillon hinter dem Ausstellungssaal. Je nach Gusto können sich Besucher mit Mikro und Kamera in Bild und Ton aufnehmen, das Video über einen QR-Code herunterladen und die eigenen Interpretationen teilen – ob von “Freude, schöner Götterfunken” oder “Ich weiß nicht, was soll es bedeuten”.