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Madagaskars Hauptstadt platzt aus allen Nähten

Madagaskars Metropole zählt zu den schönsten Städten Afrikas. Ihre Reize: französische Kolonialarchitektur, Hügellage, prächtige Farben und ein gemäßigtes Klima. Doch es gibt da ein großes Problem – mindestens eines.

Wenn die Sonne aufgeht und sich über den Hügelketten der Hauptstadt die Silhouette des Königspalastes (Rova) abzeichnet, spätestens dann weiß man, warum: Antananarivo gilt als eine der schönsten Städte Afrikas. Französische Kolonialarchitektur, prächtige Farben, noch dazu ein gemäßigtes Klima und ein großer See in der Mitte, der Lac Anosy. Allerdings: Auf einer Liste des Magazins “Forbes” über die ungesündesten Städte der Welt liegt Madagaskars Metropole ebenfalls weit oben – auf Rang drei. Und das war schon 2008.

Antananarivo – “Ort der Tausend”, so wurde die Neugründung um 1625, vor 400 Jahren, benannt. Heute ist “Tana” ein Ort für Millionen. Gab es 1950 noch rund 180.000 Einwohner, so wurde Anfang der 1990er Jahre die Millionenmarke geknackt. Inzwischen dürften es im Großraum mehr als drei Millionen sein. Oder geht es schon gegen vier, vielleicht bald fünf? Madagaskars Hauptstadt, auf bis zu 1.435 Meter Höhe im zentralen Bergland der Insel gelegen, platzt aus allen Nähten. Bald jeder Meter scheint ausgenutzt. Und: Die Infrastruktur stammt noch aus der französischen Kolonialzeit.

Seit der staatlichen Unabhängigkeit 1960 ist da kaum mehr etwas passiert: Die Straßen, die Gesundheitsversorgung, sie sind oft marode, überfüllt, zu klein. Und Raum für eine weitere Ausdehnung gibt eigentlich es nicht. Natürlich – noch weiter nach draußen, hinein in einstige Reisfelder; in die Flussniederungen, wo stets auch Hochwasser droht.

Viele Menschen legen schon heute Kilometer zu Fuß zurück, um zu ihrer kleinen Arbeit, zu ihrem kleinen Marktstand, zur Schule oder gar zum Betteln ins Stadtzentrum zu kommen. Motorisierung, das muss man sich leisten können. Der Sprit kostet nicht viel weniger als in Deutschland; und das bei einem – nur offiziell festgelegten – staatlichen Mindestlohn von 60 Euro im Monat.

Die Lebensqualität der Bewohner von “Tana” lässt sich grob so einteilen: Je höher gelegen die Behausung, desto besser. Die Luft oben in Haute-Ville ist deutlich weniger verschmutzt. Hier findet sich auch fast alle historische Bebauung.

Auch in den tiefer gelegenen, erst vor rund 100 Jahren trockengelegten Regionen gibt es zwar malerische Ecken. In der Nähe des Kanals liegen aber auch vielerorts Menschen im Schatten auf dem Boden. Mütter kämmen ihren kleinen Kindern die Läuse aus; unweit davon ein fahrender Händler mit seinem Obststand. In der Regenzeit kommen hierher auch Ratten; in den vergangenen Jahren wiederholt sogar die Pest.

Immerhin: der “Zoma”, der Freitagsmarkt, der früher allwöchentlich die Innenstadt lahmlegte, war der größte Freiluftmarkt Afrikas, bis er Mitte der 90er Jahre auf mehrere Stadtbezirke verteilt wurde. Auf den Märkten kann man alles kaufen, was die fruchtbare Insel hergibt: grünen Pfeffer, Vanille, Heilkräuter, Kohlen und Kunstgewerbe. Weiter draußen werden auch Rinderfüße und -nasen feilgeboten – ungeschminkt und ungekühlt.

Um das Jahr 1625 zunächst als Militärlager gegründet, wurde Antananarivo 1797 die Hauptstadt der Merina-Könige. Die Eroberungen von König Radama I. Anfang des 19. Jahrhunderts machten sie zum Hauptort von fast ganz Madagaskar, einer Insel von mehr als der Größe Frankreichs. 1895 wurde die Stadt von französischen Truppen besetzt, im Folgejahr die Insel zu einer Kolonie Frankreichs erklärt.

Auch nach der staatlichen Unabhängigkeit Madagaskars 1960 behielt Paris stets ein Öhrchen an den Vorgängen dort. Frankreichs Botschaft in “Tana” ist um ein Vielfaches stärker besetzt als etwa die deutsche. Und neben Armeniens Hauptstadt Jerewan hat auch Nizza eine Städtepartnerschaft mit Antananarivo.

Vom Glamour der Côte d’Azur freilich ist hier wenig zu spüren. Ein Geheimtipp für Touristen ist der “Märtyrerpfad”, eine Art städtischer Außentreppe am Hang entlang, die fantastische Ausblicke sowohl auf den einstigen Königspalast und die Oberstadt wie auch auf die Unterstadt mit dem Mahamasina-Stadion bietet.

Überraschend für den Wanderer, aber typisch Madagaskar: Hinter einer Kurve klebt am Hang ein öffentliches Waschhaus. Hier wird zusammen gewaschen, geplaudert und gelacht, kurz: zusammen gelebt. In Wind und Sonne haben T-Shirts und Handtücher hier wenig Mühe zu trocknen.

Zwei kleine Jungs vor einer Bretterbude bestaunen die Touristen – so wie die Touristen die krasse Buntheit der Szenerie bestaunen: Männer mit einem Handkarren voller Bananen; der Panoramablick aus den Vorgärten der Oberstadt; die riesige Statue vor der neugotischen Kathedrale der Unbefleckten Empfängnis. Maria als Beschützerin von Madagaskars Hauptstadt der Millionen.

Um das tägliche Verkehrschaos zumindest ein Stück weit zu überwinden, soll “Tana” nun eine öffentliche Seilbahn bekommen – gegen die anhaltende Kritik von Anwohnern, doch lieber erst Probleme wie häufige Stromausfälle und verunreinigtes Trinkwasser anzugehen. Im Juni 2024 konnte der inzwischen ins Exil geflohene Präsident Andry Rajoelina, ein Luftikus, früherer DJ und Unternehmer, noch den ersten Abschnitt eröffnen. Auf der 12 bis 13 Kilometer langen Linie mit zwölf Stationen sollen nach Abschluss täglich bis zu 75.000 Bewohner transportiert werden.

“Nehmen Sie 75.000 Buspassagiere weg, nehmen Sie 2.000 Autos von den Straßen von Tana – das ist schon viel, was die Einsparung von CO2 und die Fortbewegung angeht”, wurde damals der Staatssekretär für neue Städte und Siedlungswesen, Gérard Andriamanohisoa, euphorisch zitiert.

Befürchtet wird allerdings – und wohl nicht zu Unrecht -, dass Seilbahnfahrten eher Touristen und einer reichen Elite vorbehalten bleiben werden. Präsident Rajoelina hatte Studenten und Rentnern Vergünstigungen zugesagt. Was aber nun, nach seinem überstürzten Abgang ins Exil durch einen Militärputsch im Oktober, überhaupt aus dem 150-Millionen-Euro-Projekt wird, das ist so unsicher wie so vieles in Madagaskars bunter Hauptstadt.