Lieder von Wind und Weite

Wenn es Lieder gibt, die nach Meeresrauschen und Sturm, Watt und Weite klingen, dann müssen es wohl solche sein, die im Norden gesungen werden. Hier braust und saust der Sturmwind in den Textzeilen, hier bewegt und schlägt das Meer, und die Menschen bitten Gott, ihr Damm und Deich zu sein. Wie im Kirchenlied „Wenn wir in Wassersnöten sein“ aus dem Evangelischen Gesangbuch. „In den Alpen würde das anders klingen“, sagt Hans-Jürgen Wulf, Landeskirchenmusikdirektor der Nordkirche. Zusammen mit den Landeskirchenmusikdirektoren Beate Besser aus Oldenburg, Karsten Krüger aus Braunschweig und Hans-Joachim Rolf aus Hildesheim will er in einer Arbeitsgruppe einen gemeinsamen Liederteil für die Nordkirche, Bremen und die vier lutherischen Landeskirchen Niedersachsens entwickeln.

Bisher gibt es auf diesem Gebiet drei verschiedene Regionalteile im Evangelischen Gesangbuch, dazu zahlreiche Ergänzungsliederbücher und Beihefte wie LebensWeisen, freiTÖNE, ein Deutsch-Dänisches Gesangbuch, das Plattdüütsche Gesangbook oder den Band „Himmel, Erde, Luft und Meer“. Das neue Buch soll Verbindungen schaffen. Wulf: „Es ist ein schönes Signal, wenn wir über die Landeskirchengrenzen hinweg die Regionalteile des Gesangbuchs zusammenfassen und zeigen, dass es auf der anderen Seite der Elbe weitergeht.“ 500 Jahre nach Erscheinen der ersten gedruckten Gesangbücher sei das Singen der Gemeinde noch immer ein Markenzeichen der lutherischen Kirche.

Voraussichtlich rund 100 Lieder wird der künftige Regionalteil für den Norden umfassen, gegliedert nach vier Themen. Neben der Lage am Meer und der Bedeutung des Wassers soll die Rubrik „Ökumene und Partnerschaft“ Liedgut der Partnerkirchen aus Schweden, Polen, dem Baltikum und auch deutsch-dänische Lieder wie „Sieh, da hebt die Sonne sich aus dem Meer“ beinhalten. Auch plattdeutsche Lieder sollen mit ins Gesangbuch. „Damit auch mal auf Platt gesungen werden kann, ohne dass man dafür ein extra Liederbuch oder Liedzettel hervorholen muss“, erklärt Wulf. Der vierte Themenkreis im Regionalteil wird Liedern von Dichtern und Dichterinnen, Komponistinnen und Komponisten aus Norddeutschland gewidmet.

Während die norddeutschen Kolleginnen und Kollegen den Regionalteil planen, wird im Auftrag der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) auch der Stammteil des Gesangbuchs überarbeitet, damit auch aktuelle Lieder ihren Platz darin finden. Schon seit vier Jahren sichten und sortieren rund 80 Mitglieder einer Kommission an die zehntausend Stücke – gregorianische Hymnen und Kirchenlieder aus dem 16. Jahrhundert genauso wie neue geistliche Lieder oder Songs von Kirchentagen. Letztlich wollen sie sich auf 500 bis 600 Lieder für das gedruckte Evangelische Gesangbuch einigen. Darüber hinaus werden 1.500 bis 2.000 Lieder in einer App gesammelt und viele weitere in einer Datenbank archiviert.

Auch Jochen Arnold gehört zur Steuerungsgruppe dieser Kommission. Bei der Lieder-Auswahl gehe es nicht darum zu sagen: „Schmeiß den ollen Kram raus“, sagt der Direktor des Zentrums für Gottesdienst und Kirchenmusik im Michaeliskloster Hildesheim. „Das wäre eine Sünde an unserer Tradition.“ Arnold selbst schwärmt von ganz alten Kirchenliedern und schreibt gleichzeitig „gut singbare, poppige Lieder, die grooven sollen“. An Liedern von Martin Luther, Paul Gerhardt und Dietrich Bonhoeffer komme keiner vorbei. Arnold: „Aber wir müssen den Mut haben zu sagen: Das hat uns gefallen, aber es wird nicht mehr benutzt, und dann muss es auch nicht mehr gedruckt werden.“

Arnold macht sich für Lieder stark, „deren Texte den Inhalt des christlichen Glaubens auf den Punkt bringen“. Wie beim Zusammenstellen einer Playlist spielt das persönliche Erleben von Musik auch bei der Auswahl der Lieder für das neue Gesangbuch eine große Rolle. Das macht es für die Liederscouts in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern nicht leichter, zu einer gemeinsamen Entscheidung zu kommen. Trotzdem sagt Arnold: „Ich denke, dass wir das neue Gesangbuch zum Advent 2028 in den Händen halten.“ Dann muss auch der Regionalteil für den Norden fertig sein, mit seinen Liedern von Wind und Weite.