Kurzfilmtage Oberhausen: Leiter warnt vor „Politisierung der Kunst“

Die diesjährigen Kurzfilmtage in Oberhausen starten am 1. Mai mit fast 120 Produktionen im Wettbewerbsprogramm. In der Vorbereitungszeit drohte ein Boykottaufruf die 70. Festivalausgabe jedoch zu torpedieren. In einem offenen Brief warfen die Initiatorinnen und Initiatoren dem Leiter der Kurzfilmtage, Lars Henrik Gass, in der Nahost-Debatte eine zu große Nähe zu Israel sowie Stigmatisierung pro-palästinensischer Proteste vor. Gass wehrt sich im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) gegen die Kritik. Ziel solcher Kampagnen ist seiner Ansicht nach, einen differenzierten Diskurs zu verhindern.

epd: Herr Gass, nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel hatten Sie auf der Facebook-Seite der Kurzfilmtage Oberhausen öffentlich die Ereignisse vom 7. Oktober und die antisemitischen Reaktionen darauf verurteilt. Darauf riefen Filmschaffende zum Boykott des Festivals auf, solange Sie deren Leiter sind. Hat Sie diese harte Reaktion überrascht?

Lars Henrik Gass: Das war für uns alle neu und überraschend, auch in dieser Schärfe. „Filmschaffende“ hört sich wirklich harmlos an. Es handelt sich wohl eher um eine Kampagne von hohem Organisationsgrad, die sich den Anschein einer Graswurzelbewegung gibt. Mittlerweile wird einfach jeder und alle angegriffen, die sich nicht der verlangten Gesinnung anschließen. Wenn einem die Meinung anderer Leute nicht passt, wird eine Kampagne gestartet, die Verleumdung und Beschädigung bewusst in Kauf nimmt.

Das Ganze ist in unserem Fall umso erstaunlicher, weil die Kurzfilmtage immer eine Vielfalt von Positionen, künstlerisch wie politisch zugelassen haben. Das wird niemand bestreiten. Wir haben aber gegen den kulturellen Code verstoßen, und das wird nun bestraft. Eine sehr traurige Entwicklung, die Folgen für uns, aber auch den gesamten Kulturbereich haben wird.

epd: Wie ordnen Sie die Kritik an sich in dem offenen Brief ein?

Gass: Vordergründig handelt es sich um eine Auseinandersetzung über den sogenannten Nahostkonflikt. Im Kern handelt es sich um antisemitische Erzählungen sowie Angriffe gegen jeden, der abweicht. Dabei ist kein Raum mehr für Differenziertheit, etwa, dass man für das Existenzrecht Israels eintreten kann, aber gegen dessen amtierende Regierung.

epd: Die Stadt Oberhausen, das Land NRW und der Bund haben dem Festival und der Festivalleitung den Rücken gestärkt. Wie ist die Stimmung im Team?

Gass: Ziel solcher Kampagnen ist Dissoziation und Isolation: möglichst umfassend und möglichst dauerhaft. Eine solche Kampagne wird nicht mehr aus der Welt gehen, auch wenn sie numerisch nicht mehr anwächst. Das verlangt von uns auch im Haus Lernprozesse in einer Geschwindigkeit und einer Intensität, auf die wir nicht eingestellt waren. Mit Regungslosigkeit, Schweigen und Wegducken erreicht man nichts; man verstärkt nur noch die destruktive Wirkung solcher Kampagnen.

epd: Hat sich der Boykottaufruf auf das diesjährige Festivalprogramm ausgewirkt, das am 1. Mai startet?

Gass: Die Filmauswahl ist nicht kleiner als in den vergangenen Jahren. Auf Absagen reagieren wir mit Nachbesetzung. Das kann man handwerklich lösen. Schwerwiegender sind die Fragen, die sich in der Folge stellen: Wie will man mit bestimmten Leuten und Institutionen, die uns krass ideologisch begegnen und uns schädigen wollen, künftig umgehen? Wie soll dieses Festival künftig aussehen, wofür soll es stehen und für wen soll es da sein? Wenn Universalismus nicht mehr gewünscht wird, sondern Gesinnungsgemeinschaft, wird es ein bisschen kompliziert mit der kulturellen Verständigung.

epd: Zur Eröffnung der 70. Kurzfilmtage laden Sie zu einer Podiumsdiskussion unter dem Titel „Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit“ ein, um mit Befürwortern und Gegnern der Boykottkampagne sowie Beobachtern über den Umgang mit politischen Themen im Kulturbetrieb zu reden. Wie optimistisch sind Sie, dass ein differenzierter Dialog gelingt?

Gass: Wir sind so ziemlich die einzigen, die diesen Versuch wagen. Im gesamten kulturellen Raum besteht derzeit wenig Bereitschaft zum Dialog. Wir haben viele Absagen oder gar keine Reaktion erhalten, weil Leute nicht teilnehmen, nicht offen sprechen wollen. Aber irgendwann muss einmal irgendwer wieder anfangen mit dem Sprechen. Wenn Kultur und Wissenschaft nicht mehr die Räume dafür sind, dann müssen wir uns auch über die Demokratie echte Sorgen machen, denke ich zumindest.

epd: Wie politisch darf Ihrer Meinung nach Kunst sein und wo lauern die Gefahren?

Gass: Engagierte Kunst war schon bei Sartre ein ziemlich fragwürdiges Vorhaben. Adorno hat das in seinem Text mit dem Titel „Resignation“ zum Ende seines Lebens sehr klar benannt. Die Politisierung der Kunst ist eine sehr regressive und auch sehr repressive Form mit gesellschaftlichen Konflikten umzugehen, weil man Widersprüche nicht mehr aushält, Aktion erzwingen will, auch Konformität im Übrigen. Das ist leider trostlos und auch erschreckend.