Kunst im Knast – Das ist der Biennale-Pavillon des Vatikans

Das Leben von Menschen in Haft ist weit weg vom Leben draußen. Mit einer Kunstschau in einer Haftanstalt auf der Biennale will der Vatikan diese Grenze überbrücken.

Es ist eine besondere Zeit für die Insassinnen des venezianischen Frauengefängnisses Giudecca. Seit gut einem halben Jahr bereiten sich 80 Häftlinge darauf vor, der Außenwelt Tür und Tor zu öffnen. Nun geben die Frauen die ersten Führungen des Kunstrundgangs anlässlich der diesjährigen Biennale, einem der größten Kunst- und Kulturfestivals der Welt. Alle zwei Jahre findet es in Venedig statt und hat vergangenes Wochenende eröffnet.

“Mit meinen Augen”, so nennt sich die Schau im Vatikan-Pavillon mitten im Frauengefängnis auf der kleinen Insel Giudecca in der italienischen Lagunenstadt. Als Pavillon werden die nationalen Ausstellungsstätten auf dem internationalen Kunstfestival bezeichnet.

Dass der Vatikan dafür die Räumlichkeiten eines Frauenknasts nutzt, ist eine Botschaft im Sinne von Franziskus. Als erster Papst überhaupt wird er am Sonntag die Biennale besuchen. Mit der Wahl des ungewöhnlichen Ortes will der Vatikan eine Kultur der Begegnung fördern und auf die Belange der Ausgegrenzten hinweisen – eines von Franziskus’ zentralen Anliegen.

Der Bau liegt außergewöhnlich malerisch an einem von Venedigs unzähligen Kanälen. An seiner Hauptfassade prangt unübersehbar eine große Wandmalerei in Schwarz und Weiß. Sie stammt von einem der bekanntesten zeitgenössischen Künstler, Maurizio Cattelan, der in der Vergangenheit auch durch provokante Werke zum Thema Religion auffiel. Die Arbeit zeigt schmutzige Füße, die Armut und einen harten Weg auszudrücken scheinen. Laut Cattelan handelt es sich um eine moderne Interpretation der Grablegung Christi.

Der Rundgang soll 45 Minuten dauern. Acht namhafte Künstlerinnen und Künstler haben ihn unter Leitung der Kuratoren Chiara Parisi und Bruno Racine gemeinsam mit den Insassinnen vorbereitet. Es ist kein Ausstellungsbesuch wie jeder andere: Bei einem Sicherheitscheck am Eingang müssen die Besucher Ausweis und Handy abgeben. “Wann tun wir das überhaupt noch, uns etwas einfach so anzusehen, ohne Handys in der Hand, nur mit unseren Augen und unseren Herzen?”, bemerkt eine Assistentin der Kuratorin.

Die abgetrennte Welt betreten Gruppen von rund 20 Besuchern durch eine unscheinbare grüne Tür im Backsteingemäuer. Gespannt wartet die Gruppe, von mehreren streng dreinblickenden Wächtern in blauen Uniformen eskortiert. Aus deren Walkie-Talkies dröhnen immer wieder laute Signale. Dann treten vier Frauen in identischen, selbstgenähten Baumwollmänteln aus dem Gebäude. Sie wirken etwas scheu. Eine von ihnen trägt eine riesige Sonnenbrille.

Insassin Silvia umreißt die Geschichte des Ortes: Das ehemalige Benediktinerinnen-Kloster wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts in ein Gefängnis umgewandelt. Die meisten der Künstler haben es vorab besucht, um geeignete Räume für ihre Werke auszuwählen oder im Dialog mit den Insassinnen ihre Kunst erst zu entwickeln. So auch die syrische Künstlerin Simone Fattal. Sie hatte die Frauen gebeten, sich in Gedichten auszudrücken, und die Worte dann auf Platten aus Lavagestein abgebildet, die nun links und rechts auf den Steinmauern des langen Ganges außerhalb des Gebäudes hängen.

Die Gruppe wird plötzlich ganz still, als Insassin Giulia einen dicht vollgekritzelten Zettel auseinanderfaltet und zu lesen beginnt. Das Gedicht der an Hals und Dekollete tätowierten Frau mit dem ernsten Blick ist an ihre Geliebte außerhalb der Haft gerichtet. Die düsteren Worte handeln von dem Gefühl der Verletzlichkeit und der Sehnsucht, die Giulia nach ihr hat. “Ich dachte, ich würde ohne dich verrückt werden”, liest sie vor. “Ich zittere wie ein Blatt, das kurz davor ist, vom Ast abzubrechen. (…) Alles, was du bist, ist genau das, was ich an meiner Seite haben will. Wenn du wegläufst, kann ich dir nicht hinterherlaufen. Aber wenn du bleibst, kann ich dich für immer bei mir behalten.”

Beim Betreten des eigentlichen Gefängnisgeländes hinter der Mauer mit Stacheldraht finden sich die Besucher in einem großen, üppig wuchernden Garten wieder. Hier arbeiten ausgewählte Insassinnen morgens und nachmittags jeweils zwei Stunden. Sie bauen Blumen und Nutzpflanzen an, die einmal in der Woche an einem Stand verkauft werden. Die Frauen produzieren zudem Kosmetika, nähen Kleidung und waschen “für halb Venedig” die Wäsche.

Im großen zentralen Innenhof der Haftanstalt steht auf einer Mauer in blauen Lettern “Siamo con voi nella notte” (deutsch: “Wir sind bei euch in der Nacht”). Die Installation der französischen Konzeptkünstlerin Claire Fontaine leuchtet im Dunkeln und ist von Graffiti aus den 1970ern inspiriert. An Wänden in verschiedenen italienischen Städten geschrieben, sollten die Worte damals Solidarität mit politischen Gefangenen ausdrücken. Der Satz lasse sie sich beschützt und begleitet fühlen, erzählt Insassin Paola.

Immer wieder kommt es zu emotionalen Momenten. So etwa im Besucherraum des Gefängnisses, den Paola “Raum der Freiheit” nennt. Er sei ihr Lieblingsraum, weil sie hier ihr Kind wiedersehe. Giulia widerspricht: Für sie und einige Frauen sei es das Gegenteil. Etwa für diejenigen, die niemand besuchen komme.

In einem Kurzfilm des italienischen Regisseurs Marco Perego spielen die Insassinnen mit. Er wird in einem spartanischen Raum mit Holzbänken gezeigt, handelt von ihrer Not und ihrer Solidarität miteinander und kommt fast ohne Worte aus. Die Hauptrolle hat Peregos Partnerin, die prominente US-amerikanische Schauspielerin Zoe Saldana, übernommen. Sie spielt eine Frau, die aus der Haft entlassen wird, während eine andere neu ankommt. Die musikalisch untermalten, stimmungsvollen Bilder setzen auch die Bereiche des Gefängnisses in Szene, die man im Rundgang nicht zu Gesicht bekommt.

Besonders deutlich wird die Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Insassinnen im letzten Raum: der marmornen, hohen Gefängniskapelle, von deren Decke lange bunte Stoffschnüre hängen. Als sie über die Installation sprechen will, bricht der brasilianischen Künstlerin Sonia Gomes schon nach wenigen Worten die Stimme. Auch die gefangenen Frauen wischen sich ein paar Tränen weg. Die Künstlerin kommentiert: Für sie sei “dies der Grund, warum Kunst überhaupt existiert”.