Kriminologe: Gewalt in deutscher Gesellschaft nimmt beständig ab

Immer mehr Gewalt auf deutschen Straßen? Aus Sicht eines Kriminologen ist auf lange Sicht eher das Gegenteil der Fall. Warum härtere Strafen nichts bringen und die Herkunft der Täter auch keine Erklärung ist.

Trotz medialer Berichte über neuerliche Silvester-Ausschreitungen nimmt insgesamt die Gewaltbereitschaft in Deutschland aus Expertensicht langfristig ab. Die Gesellschaft sei „wesentlich sensibler geworden, was Gewalt angeht“, sagte der Kriminologe Tobias Singelnstein der „Süddeutschen Zeitung“ (Donnerstag). „Das ist sicherlich auch ein Grund dafür, dass Fälle wie der Jahreswechsel 2022/2023 zu solcher Empörung führen.“ Die Vorkommnisse müssten ins Verhältnis gesetzt werden. „Man muss sich nur Presseartikel oder Polizeiberichte von vor zehn, 15 Jahren anschauen. Die Härte der Auseinandersetzungen hatte da ein ähnliches Niveau.“

Die Ausschreitungen zum vorvergangenem Jahreswechsel insbesondere im Berliner Stadtbezirk Neukölln hatten bundesweit für Diskussionen über Gewalt vor allem im migrantischen Milieu gesorgt. Unter anderem sollen Rettungskräfte gezielt angegriffen worden sein. Für diese Fälle brauche es den richtigen Umgang, der die Probleme und sozialen Konflikte dahinter berücksichtige, mahnte Singelnstein. „Die Politik darf eben nicht bis vier Wochen vor Silvester warten, um darauf zu reagieren. Dann bleibt ihr kaum etwas anderes übrig, dies als Sicherheitsproblem zu interpretieren und mit polizeilichen Mitteln darauf zu reagieren.“

Vor allem die Ankündigung härterer Strafen und mehr Repressionen hält der in Frankfurt lehrende Kriminologe für unwirksam und kontraproduktiv. „Es ist bekannt, dass höhere Strafen nicht besser abschrecken.“ Auch die Politik müsse hier anders reagieren und „ihre Rhetorik runterfahren“, forderte Singelnstein. „Wenn die Politik nach Repression ruft, verlangen viele Menschen auch nach repressiven Maßnahmen, und die Politik hat dann wiederum den Eindruck, diese Erwartungen erfüllen zu müssen.“

Zudem dürfe die Auseinandersetzung nicht auf die mutmaßliche Zuwanderungsgeschichte der Täter beschränkt werden, so der Kriminologe. Einerseits ergebe sich daraus keine Erklärung, da soziale Umstände ausgeblendet würden. „Zugleich werden durch solche Debatten ganze gesellschaftliche Gruppen stigmatisiert, obwohl es nur ein paar wenige, meist junge Menschen sind, die gewalttätig werden. Diese Stigmatisierung führt wiederum dazu, dass diese Gruppen einer besonderen Kontrollintensität unterliegen und daher häufiger erfasst und auch in der öffentlichen Debatte anders wahrgenommen werden.“