Ausländische Fachkräfte sind aus der westeuropäischen Pflegelandschaft nicht mehr wegzudenken. Viele von ihnen werden in Südosteuropa angeheuert. Doch was macht das mit den dortigen Gesellschaften, die selbst einen hohen Pflegebedarf haben? Ein von der Volkswagenstiftung gefördertes Projekt „Transforming Anxieties in Southeastern Europe“ (Veränderungen der Ängste in Südosteuropa) untersucht deren Zukunftsängste und fordert ein Umdenken in der Einwanderungspolitik. Unter Federführung von Ulf Brunnbauer vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropainstitut (IOS) der Universität Regensburg sind zudem Universitäten in Graz, Budapest und Sofia involviert.
epd: Herr Brunnbauer, wer kümmert sich um pflegebedürftige und gebrechliche Menschen in unserer alternden Gesellschaft?
Ulf Brunnbauer: In der Bundesrepublik gibt es etwa 1,7 Millionen Menschen, die in einem Pflegeberuf arbeiten. Von denen sind mittlerweile ein Fünftel Arbeitskräfte aus dem Ausland. Dieser Anteil ist in den letzten Jahren enorm gestiegen und wird weiter steigen müssen, um den prognostizierten Bedarf an Pflegekräften auch abdecken zu können. Es gibt Berechnungen, die besagen, dass uns zur Mitte des Jahrhunderts womöglich ein Pflegenotstand droht, weil dann bis zu 600.000 Pflegekräfte fehlen. Diese Lücke wird man nur füllen können, wenn Deutschland attraktiv genug ist für Pflegekräfte aus dem Ausland, was nicht überall und nicht immer der Fall ist.
epd: Wer den Balkan bereist, merkt es heute schon: Die Dörfer verwaisen, die Jungen gehen zum Arbeiten ins Ausland. Was macht das mit den Gesellschaften in Ost- und Südosteuropa, wenn immer mehr Fachkräfte ins westliche Europa gehen?
Brunnbauer: Bis zu einem gewissen Grad ist es eine Verlagerung des Problems, weil natürlich auch die Länder Ost- und Südosteuropas, wo viele der Pflegekräfte angeheuert werden durch mittlerweile hochprofessionalisierte Agenturen, selbst auch Pflegebedarf haben. Auch diese Gesellschaften sind durch eine rapide Alterung gekennzeichnet.
epd: Wie gehen diese Länder damit um?
Brunnbauer: Die Situation ist nicht immer eindeutig: Im Kosovo zum Beispiel, auch ein Land mit starker Auswanderung, werden deutlich mehr Pflegekräfte als für den nationalen Eigenbedarf ausgebildet. Das geschieht, weil die Menschen schon wissen, wenn sie einen Pflegeberuf studieren oder eine Ausbildung machen, haben sie gute Chancen, nach Deutschland auswandern zu können. Die Westbalkan-Regelung hat die Zuwanderung viel einfacher gemacht.
epd: Und wie wird es in den anderen Ländern des Balkans gehandhabt?
Brunnbauer: Grundsätzlich ist die sehr starke Rekrutierung von Pflegekräften aus den Ländern Südosteuropas etwas, das für die dortigen Gesellschaften zum Problem wird, weil Fachkräfte fehlen. Vor allem ist niemand mehr da, der die alten Menschen pflegt in Ländern, in denen ohnehin die öffentlichen Einrichtungen für alten Menschen sehr unterentwickelt sind. Die Altenpflege geschah traditionell im Rahmen der Familie. Nur die jungen Familienmitglieder sind mittlerweile oft ins Ausland ausgewandert, und die professionalisierte Pflegekräfte gibt es nicht in der Zahl, die notwendig wäre.
epd: Aufgrund dieser Fakten treffen Sie in Ihrer Studie auch Aussagen über die soziale und politische Stabilität dieser Länder. Mit welchem Ergebnis?
Brunnbauer: Die Länder der Balkanregion, aber auch andere osteuropäische Länder sind durch starke Auswanderung gekennzeichnet. Die Bevölkerung hat bereits stark abgenommen und wird laut Prognosen der Vereinten Nationen sowie der Europäischen Union weiter sinken. Das befördert große soziale Ängste, die dann auch politisch ausgeschlachtet werden. Ängste, in denen vom Aussterben der Nation gesprochen wird, verbunden mit konkreten Befürchtungen: Wie kann ein soziales Leben außerhalb der großen Hauptstädte aufrechterhalten werden, wenn dort kaum noch jemand lebt? Welche Infrastruktur braucht es in Regionen, die mehr oder weniger entvölkert sind? Wer kümmert sich um die pflegebedürftige Menschen? Das trägt dazu bei, dass in Ländern, wo ohnehin die Zukunftsängste und Perspektivlosigkeit sehr groß sind, die Furcht vor der Zukunft noch weiter angeheizt wird.
epd: Inwiefern wird dies in den überalterten südosteuropäischen Gesellschaften politisch instrumentalisiert?
Brunnbauer: In letzter Zeit nutzen vor allem rechtspopulistische Kräfte die Zukunftsangst aus. Sie sprechen gerne von der Nation und malen die Gefahr von Umvolkung durch Einwanderung an die Wand, was natürlich Unsinn ist. Einwanderung ist vielmehr das einzige Instrument, um den Bevölkerungsrückgang zumindest zu verlangsamen. Es gibt einen Teufelskreis von Zukunftsängsten, welche die Menschen für nationalistische Botschaften und einfache Rezepte anfällig machen, wobei der Nationalismus aber die Probleme nur schwerer macht und keine Probleme löst.
epd: Diese Analyse ließe sich auf Deutschland übertragen?
Brunnbauer: Auch in jenen Regionen Deutschlands, wo die Menschen besonders immigrationsskeptisch sind, werden die lokalen sozialen und ökonomischen Probleme nur größer, weil Fachkräfte fehlen. Man sieht es bereits im Pflegebereich in den ostdeutschen Ländern: Der Anteil der ausländischen Pflegekräfte ist dort viel geringer als im Rest der Republik, unter anderem weil Pflegekräfte Alternativen haben. Sie fragen sich: Soll ich wohin gehen, wo ich mit rassistischen Ressentiments konfrontiert werde und wo in der politischen Debatte mittlerweile ganz übel über ausländische Arbeitskräfte gesprochen wird? Das verstärkt nur den Pflegenotstand, der wiederum die Leute noch frustrierter macht. Sie sind dann enttäuscht, dass der Staat ihnen kein Altern in Würde ermöglicht – wobei sie mit ihrem Wahlverhalten selbst dazu beitragen.
epd: Wie ließe sich mehr Klarheit in die populistisch aufgeheizte Debatte bringen?
Brunnbauer: Ein großes Problem ist, dass die Migrationsdebatte von einem quantitativ recht kleinen Segment, nämlich der illegalen Migration, dominiert wird. Dabei verläuft ein Großteil der Zuwanderung in legalen Bahnen, zumal ja viele der nach Deutschland kommenden ausländischen Arbeitskräfte ohnehin aus Ländern der Europäischen Union kommen und Niederlassungsfreiheit genießen. Ich glaube, die Politik macht den Fehler, sich sehr stark auf dieses eine, sicherlich auch wichtige Segment zu konzentrieren. Irreguläre Migration ist etwas, was man reduzieren sollte, zumal sie häufig auch für die Migranten selbst schädliche Folgen hat. Es wird aber zu wenig in der Öffentlichkeit betont, wie wichtig Zuwanderung von Fachkräften in unterschiedlichen Wirtschaftsbereichen, gerade auch in der Pflege, ist.
epd: Sie haben es schon angedeutet, dass die Attraktivität Deutschlands für ausländische Pflegekräfte auch begrenzt ist. Inwiefern?
Brunnbauer: Im Alltagsleben, das wissen wir aus Interviews mit Pflegekräften, machen diese sehr viele Erfahrungen der Ablehnung, vor allem wenn sie fremd aussehen – also eine dunkle Hautfarbe haben oder aus einem muslimischen Kontext kommen. Das passiert sowohl in der Kollegenschaft, als auch bei den Pflegebedürftigen, die sich etwa weigern, von jemandem gepflegt zu werden, die eine schwarze Hautfarbe hat. Da geht es im Alltag als auch in der hohen Politik darum, stärker zu werben und klarer zu machen, dass qualifizierte Menschen zu uns nur dann kommen werden, wenn sie sich hier willkommen geheißen fühlen. Mittlerweile gibt es viel Konkurrenz um sie, denn der Pflegebedarf steigt überall. (3289/23.10.2025)