Das Attentat hat den Wahlkampf verändert, ist sich María José Pizarro sicher. „Das betrifft nicht nur die Präsidentschaftskampagne“, sagt die kolumbianische Senatorin. „Auch Hunderte Kandidierende für Senat und Parlament, viele davon aus konfliktbelasteten Gebieten, spüren jetzt eine noch realere Bedrohung.“
Am 15. Juni wurde in der Hauptstadt Bogotá ein Anschlag auf den konservativen Präsidentschaftsanwärter Miguel Uribe verübt. Er überlebte schwer verletzt. Dass ausgerechnet ein Politiker der Rechten ins Visier geriet, zeigt laut Pizarro: „Die Gewalt trifft nicht nur eine Seite. Sie ist ein Mittel der Destabilisierung.“ Die Geschichte Kolumbiens belege das. „Wir dachten, wir hätten diese Zeiten überwunden.“
Die linke Politikerin, die 2026 in das höchste Staatsamt gewählt werden möchte, gehört – auch wegen ihrer Familiengeschichte – zu den bekanntesten Stimmen im politischen Kolumbien. Ihr Vater war Carlos Pizarro, Kommandant der Guerilla M-19, später Präsidentschaftskandidat und entscheidender Unterzeichner des Friedensabkommens von 1990. Wenige Wochen nach der Demobilisierung wurde er in einem Flugzeug erschossen. María José war damals zwölf Jahre alt. „Mein Vater überlebte 20 Jahre im bewaffneten Kampf in den Bergen Kolumbiens, aber nicht den Frieden in der Stadt.“
Nach dem Attentat auf Uribe hat Pizarro ihre Kampagne zunächst ausgesetzt. „Aus Verantwortung. Auch gegenüber meiner Familie. Ich bin Mutter von zwei Töchtern. Meine erste Pflicht ist es, am Leben zu bleiben.“ Die Frau mit den silbergrauen Locken und dem zurückhaltenden Lächeln spricht gedämpft, aber eindringlich.
Die Geschichte Kolumbiens ist durchzogen von politischen Morden. 1984 wurde Justizminister Rodrigo Lara erschossen, wahrscheinlich vom Medellín-Kartell. Kurz darauf wurde der linke Präsidentschaftskandidat Jaime Pardo ermordet. 1989 folgte Luis Carlos Galán, der als Hoffnungsträger der Liberalen galt. 1990 traf es Bernardo Jaramillo und Carlos Pizarro wenige Wochen später. Allein zwischen 1987 und 1990 wurden vier aussichtsreiche Präsidentschaftskandidaten umgebracht.
Auch heute verbreiten bewaffnete Gruppen wie Guerilla-Abspaltungen und paramilitärische Banden Angst und Schrecken. Laut dem Forschungsinstitut Indepaz wurden seit Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen Staat und der Farc-Guerilla 2016 nahezu 1.800 Menschenrechtler und Anführerinnen und Anführer sozialer Organisationen und bäuerlicher und indigenen Gemeinden sowie über 460 demobilisierte FARC-Mitglieder ermordet.
Viele linke Kandidatinnen und Kandidaten stammen aus afro-kolumbianischen oder indigenen Gemeinschaften, aus Regionen mit wenig Staat und viel bewaffneter Kontrolle. Entsprechend gefährdet sind sie.
Die Geschichte zeigt laut Pizarro, dass Attentate häufig mit Beteiligung oder Nachlässigkeit staatlicher Stellen möglich wurden. Im Fall ihres Vaters sei bewiesen, dass das Mordkomplott aus dem Sicherheitsapparat heraus ermöglicht wurde. Dennoch wurde nur ein Geheimdienstagent dafür verurteilt. Das dürfe sich nicht wiederholen. „Wären die großen Attentate der Vergangenheit jemals aufgeklärt worden, gäbe es heute vielleicht weniger Gewalt“, sagt die 47-jährige Feministin, Friedensaktivistin und Künstlerin. „Aber das Versäumnis der Justiz hat einen Raum geschaffen, in dem Täter sich sicher fühlen.“
Pizarro gehört der ersten Generation an, in der progressive Politik erstmals reale Machtoptionen hat. Sie ist Senatorin des Pacto Histórico (Historischer Pakt), der Regierungskoalition von Präsident Gustavo Petro, dem ersten linken Staatschef des Landes. Doch sie ist sich bewusst, wie fragil diese Phase ist, dass sie nach den Wahlen 2026 als kurze Sonderperiode in die kolumbianische Geschichte eingehen könnte. Ob eine gewaltfreie Politik in Kolumbien überhaupt möglich ist? „Sie muss möglich sein. Es ist der einzige Weg.“