Klimakatastrophe vor Augen: Oper in Berlin zeigt „Antikrist“

Die Oper Berlin führt zum letzten Mal in dieser Spielzeit die Oper „Antikrist“ auf. In der 1920er Jahren entstanden, inszeniert Regisseur Ersan Mondtag das Werk als aktuelles Untergangsszenario.

Bühnenbild Oper "Der Antikrist"
Bühnenbild Oper "Der Antikrist"Thomas Aurin

Luzifer treibt auf der Bühne der Deutschen Oper in Berlin-Charlottenburg sein Unwesen. Dort findet am 26. Januar noch eine Aufführung der Oper „Antikrist“, die der dänische Komponist Rued Langgaard (1893–1952) in den 1920er Jahren geschaffen hat. Ersan Mondtag, bisher vor allem als provozierender Schauspiel-Regisseur bekannt, hat in seiner performancehaften Inszenierung eine eigene Bilderwelt geschaffen und alle Gestalten in expressive Ganzkörperkostüme gesteckt.

In diesem bisher vergessenen Werk werden religiöse Themen und Bilder vergegenwärtigt, um die die Kirchen heute meist einen Bogen machen: Endzeit, Satan, Antichrist? Was reizt nun an diesem Werk, es gerade jetzt in einem inzwischen völlig säkularisierten Kontext wieder aufzuführen? Die Musik fasziniert und reißt mit – Anklänge an Wagner und Strauß sind nicht zu überhören.

Sprechen Endzeitvorstellungen die Menschen heute stärker an als noch vor einigen Jahren? In der Bonner Oper wurde im vergangenen Jahr die Oper „Asrael“ des Italieners Alberto Franchetti (1860– 1942) mit einer ähnlichen Thematik aufgeführt. Bieten diese Opern Anknüpfungspunkte zu heutigen multiplen Krisen? Die großen Kirchen stehen apokalyptischer Rede distanziert gegenüber. Können apokalyptische Szenerien aber auf der Opernbühne ausgelebt werden?

Weltuntergangsszenarien der Gegenwart

Die Deutsche Oper stellt sich mit „Antikrist“ den gesellschaftlichen apokalyptischen Stimmungen, die seit der Premiere im Januar 2022 noch zugenommen haben. Die Dramaturgin Carolin Müller-Dohle erläutert: Neben der musikalischen Qualität greife dieses Werk in Text und Musik Weltuntergangs-Bilder auf, die sich in unseren Köpfen mittlerweile festgesetzt hätten. Dabei stand in der Planungsphase vor allem die Klimakatastrophe vor Augen; Coronakrise, Ukrainekrieg und Gazakrieg verstärkten den dystopischen Ansatz noch.

Ganz offensichtlich erreichen diese Überlegungen das Publikum. Das Werk wird nun die dritte Spielzeit in Folge gezeigt, was für ein solches experimentelles Stück eher ungewöhnlich ist. Ein weiterer Pluspunkt: Das Werk zieht ein für die Oper untypisches junges und diverses Publikum an. Dabei ist der Text oft kryptisch und lässt auch den biblisch einigermaßen Kundigen etwas ratlos zurück. So orientiert man sich lieber an der Ästhetik eines überbordenden „Klang-, Farben- und Bewegungsgewitters“, wie es ein Rezensent treffend beschrieb. Die Bühne zeigt einen amerikanischen Highway, der sich nach oben ins Unendliche biegt, an den Seiten bunte Häuserreihen. In dieser Verlassenheit werden Luzifer und die Stimme Gottes, Missmut und Lüge, Hass und der „Mund, der große Worte spricht“, den Sittenverfall der Welt anklagen.

Gut und Böse sind kein Gegensatz

Noch vor dem ersten Ton robbt sich eine Gestalt von hinten auf die Bühne, blutverschmiert, der gemarterte Christus? Als „Gottes Stimme“ ist seine Rolle bezeichnet, gespielt vom Schauspieler Jonas Grundner-Culemann. „Das Lamm, das wirkliche“, schallt es ihm entgegen, bevor er wie Luzifer in ein an Oskar Schlemmers Triadisches Ballett erinnerndes Kostüm gekleidet wird. „Gottes Stimme“ erlaubt Luzifer, auf der Erde in wechselnder Gestalt den Menschen Sünde und Schuld vor Augen zu führen. Beide scheinen fast austauschbar. Langgaard stellt Gut und Böse nicht als unversöhnlichen Gegensatz dar, sondern sie sind für ihn durch Kultur – aber nicht durch Religion! – überwindbar.

Er hat das Libretto selbst verfasst und war ähnlich wie Wagner wortschöpferisch, wenn er seine dänische lutherische Staatskirche des 19. Jahrhunderts als „Lärmeskirchenödnis“ bezeichnet. Religiöse Inhalte werden neu „konfiguriert“: „Gottes Stimme“/Christus/der Gekreuzigte wird am Strick hängend als übermenschliche Figur von oben herabgelassen, nackt, mit Bart, aber mit weiblichem Geschlechtsteil.
Als dann jedoch der Antikrist Gott für tot erklärt, ist es Gott genug. Und es kommt auch hier zu einem schnellen Ende. Gottes Stimme ruft „Ephata“ (Öffne dich) und der Schlusschor besingt, dass „das Licht leuchtet über den Tälern; / dann erfrischt der Fluss des Lebens unseren Geist“. In der Offenbarung steht es etwas anders, aber sei es drum.

Bleibt nur die Beziehung zu Gott?

Wie leicht können auf der Opernbühne Leid und Elend, Schuld und Gewalt überwunden, wie schnell endzeitliche Eindeutigkeit hergestellt und jeder Zweifel eliminiert werden. Dem Publikum gefällt das. Bleibt – wie es die Dramaturgin Müller-Dohle mit Blick auf Langgaard sagt – am Ende „nur die persönliche Beziehung zu Gott“?

Unsere aktuelle Situation scheint dem recht zu geben: Kirche fiel und fällt zur Deutung der Coronakrise und des Ukrainekrieges als gesellschaftlich relevante Stimme nahezu vollständig aus. Die Herausforderung der Kirchen besteht darin, die weitere Individualisierung von Religion zu verhindern und einen Raum für die Begegnung von Verschiedenem und Trennendem zu gestalten. Der Berliner „Antikrist“ zeigt sehr eindrücklich, wie Vereinzelung ins Desaster führt. Dieser Inszenierung gelingt es, das Publikum zu irritieren, die Fragen unserer Zeit aufzugreifen und die alten religiösen Überlieferungen fortzuschreiben.

Tickets: Die Deutsche Oper in Berlin führt Rued Langgaards Oper „Antikrist“ am 26. Januar 2023 um 19.30 Uhr zum letzten Mal in dieser Spielzeit auf. Die Tickets kosten zwischen 20 und 86 Euro: Tickets kaufen

Zum Autor: Dirk Siedler ist Pfarrer in Düren