Im 35. Jubiläumsjahr der Friedlichen Revolution wird die öffentliche Debatte dominiert von Analysen gesellschaftlicher Transformation nach der Wende, um das Erbe der SED-Diktatur, um Unterschiede in Ost- und Westdeutschland, oder um – vermeintlich – „ostdeutsche“ Mentalitäten. Nicht zuletzt zählen auch Analysen über die Fragilität der Demokratie in einem wiedervereinigten Deutschland dazu. Wo aber bleibt die Reflexion über die Rolle der Kirchen im Kontext der Friedlichen Revolution? Welches Erbe prägt die Kirchen in Ostdeutschland durch die Marginalisierung in der DDR? Wie kann Kirche wieder stärker zur demokratischen Kultur in der Zivilgesellschaft beitragen?
Für uns als Zentrum für Dialog und Wandel (ZDW) Cottbus bilden diese Fragen einen wichtigen Teil unserer Arbeit. Unter dem Motto „Minderheiten machen Zukunft“ veranstalten wir vom 24. bis 26. November eine Tagung in Brandenburg (Havel) mit der zentralen Frage, wie Kirchen in Ostdeutschland die damalige Erfahrung der Marginalisierung in der DDR heute in die Gesellschaft einbringen können. Zu diesem Zweck bringen wir Akteur*innen aus Kirche, Politik, Wissenschaft und Aktivismus in und aus Brandenburg zusammen.
Inspiration aus dem Arbeitskreis „Kirche von morgen“
Inspiriert wurde die Tagung von einem 1995 entstandenen Papier des Arbeitskreises „Kirche von morgen.“ Unter dem Titel „Minderheit mit Zukunft – Zu Auftrag und Gestalt der ostdeutschen Kirchen in der pluralistischen Gesellschaft“ versuchten ostdeutsche Christen (ausschließlich Männer!) aus der Erfahrung der Marginalisierung zu DDR-Zeiten heraus, eine Zukunft der Kirchen in Ostdeutschland zu visionieren.
Dabei betonten sie besonders die Sensibilität für Marginalisierung und Entwürdigung ostdeutscher Kirchen aufgrund ihrer Erfahrungen in der DDR. In einem Gespräch erzählte Axel Noack, Mitverfasser und späterer Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, kürzlich, dass er als Vertreter der Ostkirchen damals vermehrt den Druck der Westkirchen auf die Ostkirchen spürte. Dies war verbunden mit der Anfrage, „doch endlich mal aus der Nische herauszukommen“. Auch das habe der Gruppe den Anstoß gegeben, als ostdeutsche Pfarrer, Theologen und Synodale explizit Stellung zu beziehen.
Eine Kirche von unten
Curt Stauss, Mitverfasser der Schrift und heute Pfarrer im Ruhestand, verweist besonders auf seine persönlichen, spirituellen Einflüsse durch die missionstheologische Idee und Bewegung der „Missio Dei“. Er hatte eine politische Sehnsucht nach einer „Kirche von unten“, die sich mit den DDR-Erfahrungen des Minderheitlich-Seins mischte. So heißt es in einer Dokumentation des Evangelischen Pressedienstes (epd): „Die Kirchen im Osten Deutschlands sind durch eine Jahrzehnte andauernde tiefgreifende Minorisierung geprägt. Dies ist mehr als ein statistisches Phänomen. Es hat Einstellungen verändert und zu neuen Einsichten genötigt.“
Die vielfach rezipierte Schrift des Arbeitskreises „Kirche von morgen“ wurde kurz nach ihrem Erscheinen auch von einer Gruppe Frauen kritisch kommentiert. Neben einer Programmatik und dezidierten Vision zur Ausgestaltung ostdeutscher Kirchen mahnten sie auch an, dass der Gruppe „Kirche von morgen“ und der Position „Minderheit mit Zukunft“ keine Frauen angehörten. Mitverfasserin des Kommentars war damals auch die heutige Superintendentin im Kirchenkreis Wittstock-Ruppin, Carola Ritter, die genauso wie Axel Noack und Curt Stauss bei der Tagung vertreten sein wird.
Neue Allianzen in der Gegenwart
Die Tagung führt Pfarrer*innen und weitere Aktivist*innen von damals wieder zusammen, um gemeinsam nach Entwicklung, Chancen und vor allem nach der „Zukunft“ dieser Minderheit heute zu fragen. Aktuell sehen wir in Brandenburg zahlreiche Parallelen zur Situation vor und nach 1989: eine Zivilgesellschaft unter Druck und eine fragile Demokratie, die gemeinsamer Handlungsstrategien bedarf. Zentral ist dabei die Frage, wie Kirche gemeinsam mit anderen marginalisierten Gruppen Allianzen bilden und – aus der Erfahrung als Minderheit – mit anderen Minderheiten im ländlichen Raum zusammenwirken kann.
Zwar gibt es in jedem Zentrum eines Dorfes eine Kirche. Jedoch bilden diese schon lange nicht mehr ihren sozialen Mittelpunkt. Und doch birgt die flächendeckende Präsenz der Kirchen ein großes Potenzial: für Räume der Begegnung, der Diskussion, der Reflexion und als Orte eines demokratischen, menschenwürdigen, zuversichtlichen Miteinanders – ganz so wie Kirchen zu Zeiten der Friedlichen Revolution als Werkstätten der Demokratie gewirkt haben.
Weniger Fokus auf Statistik – mehr auf Auftrag
Gemeinsam mit den Zeitzeug*innen und Aktivist*innen aus Kirche, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Politik und Wissenschaft, jüdisch, muslimisch, queer, Menschen mit Beeinträchtigung, sorbisch, wendisch und vielen weiteren zielt die Tagung auf eine Reflexion der Vergangenheit, Analyse der Gegenwart und Strategie für eine Zukunft zivilgesellschaftlicher Allianzen in Ostdeutschland.
Es geht also wieder um die Frage und Zukunft einer „Kirche von unten“. Angesichts der 80 Prozent Konfessionslosen in Brandenburg gilt es, die Kontinuitäten und Brüche dieser Minderheit zu reflektieren, um dann Parallelen und Unterschiede mit anderen Marginalisierten zu erkennen, diese zu stärken und vielleicht Kirche wieder „klein zu denken“, wie Ferenc Herzig es vorschlägt. Das bedeutet, Kirche weniger in Zahlen als von ihrem seelsorgerlichen Auftrag her zu denken. Groß schreiben wir allerdings die Gewissheit und die Hoffnung, dass gesellschaftliche Veränderungen – Revolutionen – in der Geschichte immer von Minderheiten ausgingen. Diese Veränderung scheint in einem durch den Rechtspopulismus der AfD gefährdeten Brandenburg notwendiger denn je.
Vanessa Rau ist Studienleiterin für Kirche und Gesellschaft/Religion und Transformation im Zentrum für Dialog und Wandel in Cottbus.
