Kinopremiere der Missbrauchs-Doku „Die Kinder aus Korntal“

Ab den 1950er Jahren wurden bis zu 300 Kinder im Heim der evangelikalen Brüdergemeinde im schwäbischen Korntal missbraucht. Ein Dokumentarfilm lässt Opfer zu Wort kommen und beleuchtet Aufarbeitung wie Verdrängung.

„Wir hatten eine eigene Schule, ein eigenes Schwimmbad, neue Häuser. Von außen betrachtet war das Kinderheim in Korntal ein Vorzeigeobjekt – aber der Schein hat halt getrügt“, erzählt Detlef Zander. 2013 machte er den sexuellen Missbrauch und die Gewalt öffentlich, die ihm in den 1960er und 70er Jahren im Heim der evangelischen Brüdergemeinde widerfuhr. Die Sache kommt ins Rollen.

Ein Aufarbeitungsbericht listet später Geschichten von 105 ehemaligen Heimkindern auf, bis zu 300 Kinder seien Opfer von psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt geworden. 81 Täter werden benannt, acht davon Intensivtäter. In ihrem einfühlsamen Dokumentarfilm lässt Julia Charakter (Drehbuch und Regie) Betroffene zu Wort kommen, ebenso Gemeindemitglieder aus dem 9.000-Seelen-Ort in Baden-Württemberg. Die intensiven Schilderungen der Opfer stehen teils krass verdrängenden und relativierenden Aussagen von Korntalern gegenüber. Auf dem internationalen Festival für Dokumentar- und Animationsfilme DOK Leipzig feierte der 90-minütige Film am Mittwoch Premiere.

Zander kam 1964 als Kleinkind in Korntaler Heim. Er schildert die Atmosphäre als sehr hart, kalt und von strenger Religiosität geprägt. „Wir waren einfach Menschenmüll. Wir waren nichts wert für die.“ Die – damit sind die Erzieherinnen und die Heimleitung gemeint, aber auch die Brüdergemeinde, die pietistisch ist, eine besonders konservative Strömung im Protestantismus.

Eine Betroffene erzählt, sie könne sich nicht erinnern, dass sie als Kind viel gespielt habe. In Erinnerung sind ihr stattdessen Gewalt, Prügel und abends Schläge mit dem eisernen, heißen Kleiderbügel – statt Gute-Nacht-Geschichten zu hören. „Wir wussten nicht warum.“ Eine andere Betroffene, deren Stimme nur zu hören ist, schildert: „Ich konnte nicht schlafen, wegen der vielen Ängste. Ich habe immer von Ratten, von vielen Augen, bösen Männern geträumt.“ Bedrückende schwarz-weiße Illustrationen und alte Fotos untermalen die Erzählungen, darunter Schilderungen von schwerstem sexuellem Missbrauch, durch Heimmitarbeitende wie Bürger des Ortes. „Als kleiner Junge habe ich immer gedacht: Warum hilft mir keiner?“, sagt Zander. „Die haben uns gebrochen.“

Julia Charakters Film ist auch das Porträt einer Gemeinde, der noch immer Vertuschung und Verharmlosung tief in den christlichen Knochen steckt. Pfarrer Jochen Hägele, geistlicher Vorsteher der Brüdergemeinde von 2010 bis 2022, spricht davon, dass die Gemeinde sich mit ihrer Schuld auseinandersetzen und sie annehmen müsse. Fast ein bisschen zu schnell ist er dann beim Thema Vergebung: „Wem vergeben wird, der lebt vergebend.“ Mit Blick auf die zahlreichen Suizide von Korntaler Heimkindern sagt er: „Ich will nichts gutreden. Wir sind betroffen und schockiert. Aber wenn jemand sagt, da hat sich jemand das Leben genommen wegen Korntal – da würde ich doch vorsichtig ein, zwei Nachfragen stellen wollen.“

„In Korntal wird viel geschwiegen“, beschreibt der Korntaler Andreas Schönberger die Atmosphäre des Ortes. „Das Empfinden in der Gemeinde ist eigentlich immer gewesen: Wir sind die Guten, wir sind beim Herrn Jesus, und das Böse ist außerhalb.“ Eindrückliches Beispiel dafür ist ein älteres Ehepaar, das seit 50 Jahren im Ort wohnt und – fast schon erbost – wenig Verständnis zeigt: „Dass da Mitarbeiter beschuldigt worden sind. Dinge, die wirklich nicht so stattgefunden haben. Das war verletzend für uns.“ Sie sähen nicht ein, dass mit ihrem Geld, das sie der Gemeinde spendeten, Missbrauchsopfer entschädigt werden sollen.

Der Film begleitet Zander zu einer Ortsfeier der Brüdergemeinde. Der Leiter spricht kurz den Missbrauch und die Aufarbeitung an, man stehe selbstverständlich zu Gesprächen bereit, es gebe jetzt auch einen Flyer. „Wir wünschen Ihnen und uns allen ein fröhliches Festwochenende.“ Beim Open-Air-Gottesdienst singen die Menschen das alte Kirchenlied „Lobe den Herrn, meine Seele“. Zander schaut zu: „Das ist für mich unerträglich.“ Zugleich und trotz allem ist sein Glaube an einen ihn beschützenden Gott unerschütterlich: „Den Glauben wird mir weder die Evangelische Kirche in Deutschland noch die evangelische Brüdergemeinde wegnehmen.“