Keine Arznei, kein Ausflug, mehr Pfunde

Weil aktuell bestimmte Medikamente zur Anfallsunterbrechung nicht zur Verfügung stehen, kommen Patienten, die in Einrichtungen wohnen, teilweise kaum noch aus der Wohngruppe raus, berichtet die Würzburger Ärztin Anja Klafke.

Die Situation sei mittlerweile so prekär, dass sie Menschen mit Epilepsie an den Rand des Grabes bringen könnte. „Aus einem Anfall kann sich, wird er nicht unterbrochen, ein Anfallsstatus entwickeln, und der kann letal, also tödlich, verlaufen“, erläutert die Leiterin des Würzburger Medizinischen Zentrums zur Behandlung Erwachsener mit Behinderung (MZBE).

Ihr aktueller Stand sei, dass das Standardmedikament zur Anfallsunterbrechung bis April nicht mehr in Deutschland erhältlich ist. Auch laut der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern sind die sogenannten Expidet Schmelztäfelchen mit schnellerem Wirkeintritt bis zum zweiten Quartal 2024 nicht lieferbar.

Erschwerend komme hinzu, dass auch die Versorgung mit den gewohnten Basismedikamenten immer schwieriger werde. Bei einer Umstellung drohten jedoch mehr und schwerere Anfälle. Klinikaufenthalte könnten zunehmen. Für Anja Klafke sind die Lieferengpässe inzwischen „hochdramatisch“.

Die Situation frustriert die Medizinerin sehr, wobei sie eine Chance sähe, das Problem zu entschärfen: Es müsste lediglich erlaubt werden, das Notfallmedikament zur Anfallsunterbrechung auch nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums zu verwenden. Doch trotz der dramatischen Situation gerade für Anfallspatienten mit mehrfacher Behinderung zeichnet sich nicht ab, dass dies geschehen wird. Dabei würde nach den Erkenntnissen der Ärztin mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts Negatives passieren, würde das Medikament noch einige Monate nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums eingenommen. So gebe es keine Hinweise, dass das Mittel dadurch unverträglicher würde.

Eltern behinderter Menschen könnten sich noch über das Haltbarkeitsdatum hinwegsetzen, allerdings nicht die Fachkräfte in Heimen. Weil es an Notfallmitteln zur Unterbrechung von Anfällen mangelt, trauten die sich nicht mehr, mit den Betroffenen Ausflüge zu unternehmen. Dass Lieferengpässe bei Arzneimitteln für Menschen mit Epilepsie ein „Riesenproblem“ sind, bestätigt Simone Fuchs von der Epilepsieberatungsstelle der Würzburger Stiftung Juliusspital. Sie erfährt von ihren Klienten seit mehr als einem Jahr, dass es Probleme gibt, Antiepileptika zu bekommen.

Die prekäre Versorgungssituation löst laut Simone Fuchs Angst und Anspannung aus: „Es belastet psychisch, was natürlich nicht günstig ist, wenn man zu Anfällen neigt.“ Oft müssten mehrere Apotheken abgeklappert werden, bis man das verordnete Antiepileptikum erhält. Aus Angst, irgendwann ganz auf dem Trockenen zu sitzen, hätten sich viele ihrer Klienten inzwischen einen Notfallvorrat zugelegt.

Aber nicht nur Menschen mit Epilepsie sind von Lieferengpässen betroffen. Der Run auf die neue „Fettweg-Spritze“ sorgt in manchen Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung dafür, dass Depotspritzen für Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 knapp werden. Denn in beiden Produkten befindet sich der Stoff Semaglutid.

„Für unsere Diabetespatienten mit Intelligenzdefiziten ist das ein Problem, weil sie keine Krankheitseinsicht haben“, sagt eine Betreuerin in einer Einrichtung für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung der Caritas in Augsburg dem Evangelischer Pressedienst (epd). „Sie halten sich nicht an Ernährungsprogramme und sind auch nicht dazu zu bringen, Sport zu machen“. Einer ihrer übergewichtigen Schützlinge habe ohne die Spritze im vergangenen Quartal fünf Kilogramm zugenommen.

Hat ein Bewohner ein Rezept für eine Diabetes-Depotspritze, klappern die Mitarbeiterinnen der Einrichtung oft ergebnislos alle Apotheken vor Ort ab, erzählt die Caritas-Mitarbeiterin. „Warum das Medikament nicht verfügbar ist, ist mir ein Rätsel“, sagt sie, „denn Menschen, die damit nur abnehmen wollen, brauchen dafür doch ein Rezept vom Arzt“.

Bei stark Übergewichtigen, die sich vielleicht sonst einer Operation unterziehen müssten, stehen die seit 2022 in der EU zugelassenen Spritzen im Augenblick hoch im Kurs. Dass es zu einer Verknappung auf dem Markt kommt, bestätigt Frank Kerling, Oberarzt des MZEB des Krankenhauses in Rummelsberg (Schwarzenbruck im Landkreis Nürnberger Land). Selbst sei er noch nicht mit konkreten Versorgungsengpässen konfrontiert gewesen, „inwieweit das noch kommen wird, kann ich schlecht einschätzen“, sagt Kerling.

Übergewicht wegzuspritzen, statt auf Junk-Food zu verzichten und sich gesund zu ernähren, ist nicht zuletzt durch gepostete Vorher-Nachher-Videos auf TikTok zum Trend geworden. Der Boom ist so stark, dass es laut Wolfgang Trosbach, Fachpsychologe Diabetes aus Würzburg, neben Rezept- und Spritzenfälschungen einen „heftigen Schwarzmarkt“ gebe.

Mit einer Spritze den Pfunden zu Leibe zu rücken, scheint aber keine besonders gute Idee zu sein. Darauf deuten laut Wolfgang Trosbach Studien hin. Demnach komme es häufig zu Übelkeit, Erbrechen, Durchfällen oder Verstopfung. Oft träten auch Kopfschmerzen, Schwindel, Fatigue und Haarausfall auf. Er selbst würde gründlich überlegen, ob er lebenslang ein Medikament einnehmen wolle, dessen Langzeitwirkungen noch nicht bekannt sein können. (00/0979/25.03.2024)