Können Roboter die Zuwendung von Menschen ersetzen? Kann Künstliche Intelligenz (KI) den Fachkräftemangel in der Pflege kompensieren? Über diese Fragen sprach die Berliner Soziologin Jutta Allmendinger bei einer Tagung der Diakonie in Niedersachsen am Mittwoch in Lilienthal bei Bremen. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) warnte die Forscherin davor, die neue Technik zu vermenschlichen. Dennoch führe an KI in der Pflege kein Weg vorbei. Allmendinger ist seit 2024 Mitglied im Deutschen Ethikrat sowie Vorsitzende der Wissenschaftlichen Kommission Niedersachsen.
epd: „Dieser Roboter bringt Liebe ins Altersheim“: So war ein Werbebeitrag über Pflegeroboter, wie den in der Lilienthaler Diakonie eingesetzten kleinen Navel, überschrieben. Kann Künstliche Intelligenz Liebe?
Jutta Allmendinger: Liebe ist sicherlich übertrieben. Aufmerksamkeit ist das bessere Wort. Vielleicht sogar Vertrautheit. Denn viele Geräte sind mittlerweile so programmiert, dass sie mit ihren angenehmen Stimmen einen guten Morgen wünschen, sich nach dem Befinden erkundigen, Trost spenden. Immer häufiger werden dabei sogar die Stimmen von Angehörigen nachgestellt. Das fühlt sich besser an, als ohne jede Ansprache aufzuwachen. Navel kann auch Witze erzählen, oder etwas aus früheren Zeiten vorsingen und blinzelt dabei sogar. Pflegebedürftige fühlen sich dann nicht ganz allein.
epd: Welche Einsatzmöglichkeiten gibt es noch?
Allmendinger: Roboter bringen frische Wäsche, liefern das Essen, räumen das Geschirr weg, führen kurze Unterhaltungen, nehmen den Puls und andere medizinische Kennwerte. Andere Geräte helfen den Pflegekräften, die enormen körperlichen Belastungen, beispielsweise beim Heben, zu meistern. Das alles unterstützt Pflegekräfte und wirft zunächst wenige ethische Fragen auf.
epd: Und doch antwortet die Maschine nur via Wahrscheinlichkeitsrechnung. Benötigen Behinderte und Pflegebedürftige nicht echte menschliche Zuwendung?
Allmendinger: Das ist kein Entweder-oder. KI und Robotik können unterstützende Leistungen erbringen. Das ist wichtig und gut. Denn keine pflegebedürftige Person, ob zuhause oder in einer Einrichtung, kann 24 Stunden lang Pflege und Betreuung bekommen. Es darf aber keinesfalls darum gehen, menschliche Nähe und Zuwendung ganz zu ersetzen. Im Gegenteil: Die neue Technik sollte dazu führen, dass die Pflegekraft mehr qualitativ hochwertige und weniger gestresste Zeit mit der zu pflegenden Person verbringen kann. Das entbindet die Angehörigen nicht von ihrer Verantwortung: Wegbleiben und sich nicht kümmern, weil die Maschine nun da ist – so darf es nicht sein. Der Deutsche Ethikrat hat zu diesen Fragen zentrale Forderungen aufgestellt.
epd: An welchen dieser ethischen Forderungen kann Ihrer Ansicht nach nichts vorbei gehen?
Allmendinger: Oberstes Prinzip ist die Menschenwürde. Kein Mensch darf zum Objekt eines Algorithmus gemacht werden. Die neue Technik muss die Autonomie und die Individualität des Menschen respektieren. Und Entscheidungen von Menschen über Menschen, beispielsweise bei der Hirntoddiagnostik, darf niemals allein an Roboter delegiert werden. Zudem müssen alle Möglichkeiten, Gefahren und auch Nichtmöglichkeiten der KI den Menschen transparent kommuniziert werden. Das ist mir mindestens ebenso wichtig wie die Frage nach Verantwortung und Haftung.
epd: Verantwortung und Haftung sind offenbar noch nicht umfänglich geregelt, wie der Gerichtsprozess um den Tod des 16-jährigen Adam Raine aus Kalifornien zeigt, der möglicherweise von ChatGPT zum Suizid verleitet wurde.
Allmendinger: Das stimmt. Je mehr Verantwortung an KI und Robotik übertragen werden, desto umfassender müssen diese Fragen geklärt werden. Das ist bisher nicht hinreichend geschehen. ChatGPT und andere Sprachmodelle sind da sicherlich ganz besonders im Fokus.
epd: Am Rande der Tagung in Lilienthal war von einer KI die Rede, die es Menschen mit spät erworbenen Hirnschädigungen ermöglichen könnte, wieder eigenständig mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. Wäre das gut?
Allmendinger: KI kann dabei helfen, vorhandene Informationen der betroffenen Menschen, die diese aber selbst nicht mehr äußern können, so zu übersetzen, dass mit anderen Menschen kommuniziert werden kann. Solche Tools werden bereits eingesetzt. Sie kommen den Menschen sehr zugute.
epd: Eine große Herausforderung ist die zunehmend erlebte Einsamkeit. ChatGPT und ähnliche Programme kann man auch nachts um drei mit seinen Nöten behelligen. Aber tappen wir Menschen nicht in eine Falle, wenn wir uns mit KI auf eine Art beschäftigen, als sei sie eine lebendige Person?
Allmendinger: Das Soziale, das Menschliche, die Liebe, die kann durch Künstliche Intelligenz nie ersetzt werden. Man muss aufpassen, dass die älteren Leute dieser Fiktion nicht erliegen. Daher muss man alle Menschen früh schulen, nicht erst dann, wenn der Pflegefall eingetreten ist. Wir brauchen eine emanzipierte Haltung gegenüber KI. So verstanden, kann KI das Gefühl von Einsamkeit mindern.
epd: Die Gruppe der Älteren wächst, die Pflegekrise ist massiv. Stichwort Babyboomer: Muss das Renteneintrittsalter angehoben werden?
Allmendinger: Selbst wenn es angehoben würde, würde die Zeit in Pflege nicht deutlich verringert werden. Wir reden über Rente, mit der Pflege beschäftigen wir uns viel zu wenig. Insbesondere, da die Lebenserwartung im Durchschnitt noch immer steigt und immer weniger Menschen Pflege innerhalb der Familie erbringen können.
Irritierend ist auch, dass wir uns viel zu wenig mit dem sogenannten differenziellen Altern beschäftigen. Die Lebenserwartung ist sehr unterschiedlich und hängt von der genetischen Ausstattung, in hohem Maße aber auch von sozialen Bedingungen wie Bildungsmöglichkeiten, Wohnort, Umweltbelastungen, Ernährungsmöglichkeiten ab. Insofern sollten wir nicht versuchen, Lösungen zu suchen, die alle Menschen vermeintlich gleich behandeln, auch wenn sie es nicht sind.
epd: Wir brauchen also mehr Pflegefachkräfte.
Allmendinger: Ja, aber der Bedarf wird aus demografischen Gründen niemals gedeckt werden können. Selbst wenn wir verstärkt in anderen Ländern Fachkräfte anzuwerben versuchen, wird es nicht reichen. Dazu forsche ich selbst aktuell mit einem Team aus lateinamerikanischen Ländern. An KI in der Pflege geht also kein Weg vorbei. Und die Fachkräfte sollten deshalb dringend intensiv in der Nutzung und auch Beherrschung von KI geschult werden.
epd: Wie hoch schätzen Sie die Gefahr von Deskilling ein, also des Phänomens, dass durch die vermehrte Nutzung von KI und Robotik in Pflege und Medizin praktisches und haptisches Erfahrungswissen verloren geht?
Allmendinger: Wenn man gut steuert, werden durch KI bestimmte Tätigkeiten weitgehend überflüssig werden. Pflegekräfte können dann für eine Vermenschlichung der Pflege sorgen. Vor einer Entmenschlichung durch KI müssen wir uns also nicht zwangsläufig fürchten. Natürlich muss die Finanzierung mitziehen. Es darf nicht passieren, dass mit Verweis auf Einsparpotenziale durch KI der Personaleinsatz pro Patient reduziert und Personal abgebaut wird.
epd: Müssen wir Angst vor einem Kontrollverlust haben oder macht KI uns frei?
Allmendinger: Wir brauchen möglichst schnell flächendeckend Weiterbildungsangebote insbesondere für die Älteren. Wir müssen als Gesellschaft schnell einen souveränen Umgang lernen, müssen verstehen, dass mit KI gelogen und getäuscht werden kann. Und wir sollten uns davor hüten, die Instrumente zu vermenschlichen. Denn das ist es nicht. KI macht uns mit Sicherheit nicht freier. KI kann aber Zeit freischaufeln, wenn wir sie ausreichend verstehen und beherrschen. Wir müssen wachsam sein.